Bilder aus dem Alten Brandenburg
Otto Tschirch

Otto Tschirch: Bilder aus der Geschichte
der Stadt Brandenburg
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Am 22. Juno 2012 war es sehr still
in der alten Chur- und Hauptstadt. Niemand nahm von diesem Datum Notiz.
Es handelte sich um den 600. Jahrestag des Einzugs der Hohenzollern
in Brandenburg.
Jules-Francois S. Lemarcou.
Havelsee. Es ist sicher
ungewöhnlich, ein 113 Jahre altes Buch zu besprechen, zumal wenn dessen
verfügbare Exemplare sehr rar gesät sein dürften.
Im Falle der „Bilder aus der Geschichte der Stadt Brandenburg“ aus der
Feder des Stadtchronisten, Stadtarchivars, Chefs des Historischen Vereins,
Lehrers und Sohn Gubens an der Oder, Professor Otto Tschirch, ist das
jedoch gerchtfertigt.
Dieses Buch ist in der Tat eine Rarität, welche die Bibliothek des Preußischen
Landboten bereichert, zumal dieser ja der Chur- und Hauptstadt engstens
verbunden ist.
Eingangs sollte erwähnt werden, dass das Büchlein selbstredend von einiger
Bedeutung für die an der Heimatgeschichte Interessierten ist, da Tschirch
bei seinen Forschungen immerhin noch Material zur Verfügung stand, welches
in den letzten Kriegstagen im April 1945 unwiederbringlich verloren
ging.
Insofern begegnet uns hier eine Sekundärquelle, welche oberflächlich
und populärwissenschaftlich Wissen vermittelt, was sonst schwer oder
gar nicht mehr zu erlangen ist.
Wer die deutsche Fraktur flüssig zu lesen versteht, wie das in der Redaktion
des Landboten als selbstverständlich erachtet wird, hat mit den 160
Seiten kein Problem.

Wohl aber mit dem Inhalt, der aus diesen Seiten spricht. Er erfordert
aus heutiger Sicht eine gewisse Distanz und teils scharfe Abgrenzung.
Nun muss man wissen, dass Tschirch einem evangelisch-lutherischem Pfarrers-Haushalt
entstammte. Die Sozialisierung und ideologische Indoktrination dieser
Kinder in Schule und im Falle von Tschirch dann auch noch nahtlos anschließend
im Elternhaus ist bekannt. Für einen Spross dieses kaisertreuen Bürgertums
war zeit seines Lebens eine Befreiung aus den Fesseln dieser fatalen
Prägung kaum möglich. Erst die Ruinen des zweiten Weltkriegs und der
enorme Blutzoll aller, die in ihn nolens volens verwickelt waren, ermöglichte
den radikalen Bruch mit diesen unheilvollen Strukturen.
Tschirch schrieb dieses Buch am Vorabend des ersten Weltkrieges in seinem
54. Lebensjahre. Das allein sagt alles. Da war nichts mehr zu löten.
Der war wirklich von dem größenwahnsinnigen Palaver überzeugt, das er
da seitenweise von sich gibt.
Entlastend muss man jedoch konstatieren: Weder Luther noch Tschirch
konnten ahnen, welches grauenvolle Leid die Nazis aus der Haltung gegen
alle als minderwertig betrachteten Völker erwachsen ließen, welche uns
aus den Schriften dieser beiden Gelehrten entgegen posaunt.
Wir sind vorsichtig, diese beiden Vertreter ihrer Zeit zu verurteilen,
da sie ja eben Kinder ihrer Zeit waren und niemandem die Möglichkeit
zu eigen ist, in die für ihn fernere Zukunft zu schauen.
Der Tenor dieser Epoche war, der er war und wir wären nicht, wer wir
heute sind, wenn uns nicht die katastrophalen Folgen dieser Geistes-,
respektive Ungeisteshaltungen so drastisch vor Augen geführt worden
wären.
Also schwadroniert Tschirch von der Unterlegenheit der westslawischen
Völker und deren zwangsläufigem Scheitern beim Versuche, sich der Ostexpansion
der überlegenen Sachsen zu erwehren.
Nun waren die Slawen keine Heiligen. Gott bewahre! Das waren auch die
Indianer nie gewesen, wenngleich es nicht an romantischen Versuchen
von Legionen von schwärmerischen Mauerblümchen fehlt, sie dazu zu verklären.
Tschirch hat natürlich recht, wenn er feststellt, dass die Sachsen aufgrund
ihres höheren, nämlich hochfeudalen Organisationsgrades, ihrer fortschrittlicheren
Landwirtschaft und den daraus abzuleitenden Fertigkeiten in der Waffenproduktion
beim Kampf um das Land zwischen Elbe und Oder die besseren Trümpfe in
der Hand hatten.

Tschirchs Narrativ aber deutet schon sehr in eine daraus abzuleitende
Minderwertigkeit der slawischen Volksgruppen als Ganzes und nimmt damit
die verheerende Argumentation der Nazis vom Untermenschentum im Osten
vorweg, bzw. hilft mit seinen Schriften, die braune Rassen-Ideologie
zu untermauern.
Seine Hohelied auf die Ostexpansion dürfte jedes Naziherz erfreut haben.
Immerhin lässt es sich doch viel besser verkaufen, dass man den Osten
überrennt, um ihn an den Segnungen der höherwertigen Kultur teilhaftig
werden zu lassen, als die profane und schnöde, jedoch absolut zutreffende
Erklärung vor tausend Jahren wie im auch im Dritten Reiche, dass man
die Ostvölker überfällt, um sie zu versklaven und sich ihrer Ressourcen
zu bemächtigen.
Dass man ihnen damit auch gleich noch das von Tschirch als absolut alternativlos
empfundene Christentum über die Heidenschädel drischt, ist natürlich
der zweite vom Autor als segensreich dargestellte Aspekt.
Weder die Metaphysis des christlichen Himmelreichs im Gegensatz zu dem
ganz irdisch-greifbaren Elend der Verlierer, die für Tschirch völlig
zu Recht in ihre schutzlosen Kietze vor den Mauern der befestigten Städte
verbannt und die auch schon im Mittelalter als Menschen Zweiter Klasse
mit all der damit verbundenen Entrechtung und Verachtung behandelt wurden,
fochten Tschirchen auch nur im Mindesten an. Das ging für ihn völlig
in Ordnung.
Glauben Sie ja nicht, Botha hätte die Apartheid erfunden, die Rhodesier,
der belgische gekrönte Erzschurke Leopold II. oder gar die verheuchelten,
allerchristlichsten Sklavenhalter in den amerikanischen Südstaaten!

Diese unchristlichen Lumpereien, welche auch an dieser Stelle lediglich
und ganz leidenschaftslos ökonomischen Prämissen geschuldet waren und
sind, hatten die Deutschen schon vor tausend Jahren drauf.
Dabei fällt es Tschirch auch nicht im Mindesten auf, dass seine „überlegenen“
und hochkultivierten Deutschen in der Mark ein Schreckensregiment entfalteten,
zu dem die Wenden nicht einmal ansatzweise in der Lage waren.
Nehmen wir die Zeit der Wittelsbacher, die Zeit des Falschen Waldemars,
die Zeit der Raubritter, der Quitzows, Itzenplitze, Rochows, Bredows,
Schulenburgs, der edlen Gänze zu Putlitz und wie die adligen Banditen
alle hießen! Nehmen wir die barbarische Ära des Dreißigjährigen Krieges!
Nehmen wir die Schwedenzeit bis zur Schlacht von Fehrbellin! Was für
grandiose Kulturleistungen, gipfelnd in dem widerwärtigsten Menschheitsverbrechen
der Nazis, vor dem sich selbst der hinkende Timur im fernen Samarkand
bekreuzigt hätte.
Tschirch preist in seiner „humanistischen“ Verklärung das Alte Rom als
Kulturträger par excellance. Wir wetten, er kannte es nur aus seiner
Schulzeit und der Lektüre des Seneca, Cato, Juvenal, Caesar … und wir
wetten auch, dass der biedere Pädagoge Tschirch im realen Alten Rom
der Kaiserzeit keine vierundzwanzig Stunden überlebt hätte.
Schon auf dem Weg aus der Subura zum Forum hätte er entweder eine Sica
zwischen den Rippen oder ein Sklaveneisen um den Hals gehabt. Wenn er
Glück gehabt hätte, dann wäre er bis in die Arena des Flavischen Theaters
gekommen, das den Heutigen als Kolosseum bekannt ist. … in die Arena
– nicht auf die Ränge! Da hätte er dann seine Scheiß-Hochkultur gehabt!
Wir möchten dieses Buch nicht verreißen. Nein, wirklich nicht. Es hat
unseren historischen Horizont um Einiges erweitert.
Wenn man die schwulstige und verschwurbelte Sprache der ausgehenden
Belle Epoque sowie das ideologisch begründete, heute unerträgliche und
inakzeptable Gedöns abzieht, bleibt noch immer sehr viel Lesenswertes
übrig.
Doch finden wir die Benennung von Hohenstückens zentraler Straße und
einer Brandenburger Oberschule nach Otto Tschirch so aus der Zeit gefallen
und deplatziert wie das Reiterstandbild Leopolds II. In Brüssel. Zugegeben
– an Tschirch klebt kein Blut wie an Leopold und er konnte weder wissen
noch ermessen, welchen menschenverachtenden Irrsinn er da guten Glaubens
in die Welt trompetete.
Aber auch mit Worten, mit einer Geisteshaltung kann man schwerste Schuld
auf sich laden. Wir wissen das spätestens seit dem 1946er Todesurteil
gegen den Frankenführer Julius Streicher, der auch so ein biederer Pädagoge
gewesen war, bevor ihm die Macht als Gauleiter und Gastgeber der Reichsparteitage
zu Kopf gestiegen ist.
Übrigens auch wie Mussolini … nur mal so nebenbei … was das bösartige
Bonmot zu stützen scheint, dass Pädagoge kein Beruf, sondern eine Diagnose
sei. Doch CAVE! Wir reden von Schulmeistern und Pädagogen – nicht von
Lehrern! Lehrer – das sind ganz besondere Leute. Einem Lehrer verdankt
man viel und schuldet ihm lebenslangen, tiefen Respekt.
Nein, Tschirch war niemals und beileibe kein dreckiger alter Mann, der
abends im Park Probleme macht, wie die große Hannah Arendt den Gauleiter
Streicher so überaus treffend charakterisierte. Er zählte sicher zu
Recht zu den Honoratioren der Stadt und ein schlechter Mensch war er
gewiss auch nicht.
Dennoch halten wir es für dringend geboten, dass auch diese Persönlichkeit
vor dem Hintergrund ihrer Geisteshaltung heute kritisch beleuchtet und
ihr Werk einer gründlichen und kommentierenden Begutachtung unterzogen
wird. Das ist man den Opfern dieser Arroganz schuldig. Allen!