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Ihre Gesundheit ist uns (zu) teuer
Wie Karin für ihr Asthmaspray außer Atem geriet

Don M. Barbagrigia
Karin hatte in der Kammgarnspinnerei gearbeitet. Ihrer Lunge hatte das nicht gut getan. Weil ihr Burkhard Schichtschlosser im Kirchmöseraner Weichenwerk gewesen war, wohnten sie in Kirchmöser, am Platz der Einheit. Für Karin war nicht nur die Arbeit hart gewesen, sondern auch die tägliche Fahrt zum Betrieb. Denn Kirchmöser gehört zwar zu Brandenburg an der Havel, liegt aber am anderen Ufer des Plauer Sees, über Land gut und gerne zwei Meilen* vom Stadtzentrum der Domstadt und Karins ehemaligem Werk entfernt. Das bedeutete: Mit dem Fahrrad bei Wind und Wetter zwei Kilometer morgens früh zum Obelisken. Von dort fuhr alle vierzig Minuten die Straßenbahn 1 in die Stadt. Eine Stunde Arbeitsweg war Minimum. Wenn sie die Bahn verpasste, hatte sie ein gewichtiges Problem. Doch von dieser Zeit her war sie Patientin in der hervorragenden Praxis des Doktors H. und seiner Frau am Südtor in Kirchmöser. Dorthin konnte sie, wenn's mal nur ein kleiner Infekt war, auch zu Fuß laufen. Sah es schlimmer aus - gar kein Problem: H.s kamen beide auf Krankenbesuch rüber.

Nach der Wende starb Burkhard und Karin zog in die Stadt nach Brandenburg an der Havel. Die Tochter wohnte dort, es war alles ein bisschen leichter. Nur einen neuen Hausarzt wollte sie sich damals nicht suchen. Wer über Jahrzehnte von H.s gut betreut wurde, der wechselt nicht mehr. Dann gaben H.s die Praxis aus Altersgründen auf. Dr. B. aus Norddeutschland übernahm. Auch ein großartiger Arzt. H.s hatten bei der Wahl ihres Nachfolgers ganze Arbeit geleistet. Karin blieb bei ihm, auch wenn's schwer vom weiten Weg her fiel. Immerhin hatte sie sich so an die Praxis gewöhnt. Karin ließ die Tochter predigen, wenn diese Muttern mit ihrem kleinen roten Auto immer noch nach Kirchmöser fuhr - Karin wollte sich keinen neuen Arzt suchen. Doch selbst wenn sie zugestimmt hätte: Sie hätte es auch kaum vermocht. Auch die Monika hatte das einsehen müssen als sie heimlich für Muttern nach einem neuen Hausarzt in der Stadt Ausschau hielt. Keine Praxis nahm neue Patienten an. Einige wollten sogar Notfälle abweisen. Monika kam ins Grübeln. Ihr wurden doch monatlich satte 15% Kassenbeiträge vom Gehalt abgezogen! Warum gab es nicht genügend Arztpraxen? Wer legte fest, wann der Grundbedarf einer Kommune oder Region an hausärztlicher Versorgung gedeckt sei und an welchen Kriterien wurde der Wahrheitsgehalt dieser Festlegungen überprüft? Sparte man hier auf Kosten der Versicherten?

Dann hatte Monika den Unfall mit dem Fahrrad. Beckenbruch, mehrfacher Bruch des Sprunggelenks. Am schlimmsten aber war die innere Schädelblutung, die erst zu spät festgestellt wurde. Es traten epileptische Anfälle auf. Monika gab die Fahrerlaubnis auf Anraten ihres Arztes ab. Wer sollte nun die Mutti zum Dr. B. fahren? Und Mutti hatte ihr Alter. Die Gebrechen häuften sich. Die staubige Knochenarbeit in der Kammgarnspinnerei, auf deren Gelände seit jüngstem eine Eigenheimsiedlung mitten in der Stadt zu wachsen begann, forderte ihren späten Tribut. Mit der Luft wurde es schlecht, man hatte ihr Aarane-Spray verschrieben. Das gab es sogar im Doppelpack. Nur für das Rezept musste sie halt immer nach Kirchmöser raus. Vierzehn Kilometer eine Fahrt. Mit dem Bus war es beschwerlich geworden. Die Umsteigerei. Es half nur das Taxi. Da war schnell mal ein Fünfzig-Euro-Schein weg.

Und dann war der Doktor im Urlaub. Sie hatte nicht dran gedacht. Wieder das Taxi rufen: Zwei Kilometer weiter war die Vertretungspraxis. Dieses Abenteuer brachte Karin bereits in arge Bedrängnis. Denn so dicke waren ihre Rente von der Kammgarnspinnerei und die Witwenrente von ihrem Burkhard auch nicht. Man musste rechnen und am Ende des Geldes war oft noch eine Menge Monat übrig. Der Unfall der Tochter hatte das Eingemachte angegriffen. Jetzt wurde es knirsch. Das Taxi ein zweites Mal rufen, das war Wahnsinn - aber was half es? Wenigstens musste Karin nicht die zehn Euro Praxisgebühr bezahlen. Es war der Quartalsletzte. Glück gehabt...

Wirklich? Karin sagte der Vertretungsärztin, was sie brauchte. Die war nett, obwohl sie an diesem Tage ein Schild an der Praxistüre zu hängen hatte, dass sie nur noch Notfallpatienten empfangen würde. Quartalsende. Wer weiß, wie lange Frau Dr. H. schon für lau zu arbeiten gezwungen war. Das Budget war bestimmt schon im zweiten Drittel des Quartals erschöpft. Ab da setzte die Ärztin nur noch zu. Eigentlich hätte sie die Praxis für den Rest des Vierteljahreszeitraums dicht machen können. Aber man hatte ja mal einen Hippokratischen Eid geschworen und man gehörte noch zu den Vertretern der weißen Zunft, welche diesen Eid ernst nahmen.

Karin sah nicht mehr so gut. Sie sagte nur, dass sie die Doppelpackung Aarane benötige. Die Ärztin schrieb. Karin nahm das Rezept und dankte. Als sie wieder auf die Straße trat, war das Taxi lange weg. Doch der Tag war angenehm warm, der Bahnhof Kirchmöser nur zweihundert Meter weit weg und wenn sich Karin nicht irrte, fuhr in einer Viertelstunde ein Zug nach Brandenburg. Zehn Minuten Fahrt - billiger als das Taxi noch mal zu rufen, war's allemal. Und vom Bahnhof nach Hause - das würde schon gehen. Die Fahrt war schön und kurz und in Brandenburg angekommen konnte man ja gleich in die Apotheke am Bahnhofsplatz gehen und das Rezept einlösen.

So schlecht waren Karins Augen denn doch nicht, dass sie nicht gesehen hätte, wie die Apothekerin die Verpackung öffnete und ein Sprayfläschchen herausnahm. "Wozu denn das? Ich habe doch zwei aufschreiben lassen." Karin protestierte. Die Apothekerin legte ihr das Rezept vor. Tatsache, da stand nur die Verordnung für ein Medikament. Sollte sich Frau Doktor vielleicht verhört haben? Die Apothekerin sprach wie abwesend: Nein, das erlebe sie öfter zum Quartalsende. "Da verschreiben die Ärzte nicht mehr so üppig. Das Budget... Sie wissen schon..." Karin guckte betreten. "Die Zuzahlung wäre dann fünf Euro. Darf's sonst noch was sein?", flötete die Pharmazeutin. "Nein, danke", stammelte Karin. "Wieviel hätte es denn gekostet, wenn ich die beiden Sprays aufgeschrieben bekommen hätte?" "Eins zwanzig mehr, Frau Sch.", kam die prompte Antwort. Also insgesamt sechs zwanzig, dachte Karin. Nu reicht das Spray bloß die Hälfte und ich muss wieder nach Kirchmöser raus. Wieder fünfzig Euro weg. Wieder eine Zuzahlung von fünf Euro.

Zu Hause angekommen setzte sich Karin über ihr Haushaltsbuch. Rechnen konnte sie gut. Hatte ihr schon der Neulehrer nach dem Krieg bescheinigt. Aber was half das? Die Zahlen waren unbarmherzig. Im Hintergrund hatte sie meistens den Fernseher laufen, seit Hansi der Wellensittich tot war. Irgendein Geräusch brauchte man, sonst wurde man rammdösig. Zum gleichmäßigen Ticken des Regulators gesellte sich nun noch die penetrant säuselnde Stimme der Ärztin und Sozialministerin Ursula von der Leyen, die den Reportern wieder irgendeine geniale Reform verkündete und welche Positionen sie gegen die Allmacht der Pharmakonzerne und der mit ihnen im selben Boote rudernden Krankenkassen durchgesetzt hatte. Karin gähnte. Sie war seit heute früh auf den müden Beinen.

Aber was die Sozialministerin da verkündete, das musste schon Hand und Fuß haben, denn die Fassade der Krankenkasse, bei der Karin und Monika versichert waren, spiegelte sich blitzblank in der Sonne. Ein wahrer Palast. Sie hatten im letzten Jahre dort oft gesessen, erst als Monika für die Mutti eine Hüftprothese durchkämpfen wollte, die in ihrem Alter finanziell nicht mehr zu entsprechen schien, dann, als Monika im Krankenhaus lag und Karin die Behandlungen genehmigen lassen musste, die irgendjemandem als zu kosmetisch und medizinisch nicht unbedingt begründet erschien. Und - ach - übrigens, die Renten sollten zum übernächsten Ersten um 2,1% angehoben werden.

"Das reicht dann genau für die überflüssige Fahrt zum Doktor", dachte Karin. Wie gesagt, Kopfrechnen zählte noch immer zu ihren Stärken. Und immerhin verband sie, eine einfache ehemalige Arbeiterin einer Kammgarnspinnerei, dank des sozialen Gesundheitssystems eines der reichsten Länder der Welt ein sehr ausgleichendes Moment mit einer studierten Ärztin: Beider Budget war in aller Regel vor der Zeit erschöpft. Dafür vermeldete die Krankenkasse derweil Überschüsse, die man "für die mageren Jahre" zurücklegen wollte. Einstweilen investierte man sie augenscheinlich in eine schicke Dependance und märchenhafte Vorstandsgehälter. Und wenn Karin nicht über diesem Ärger einen garstigen Tod gestorben ist, dann leben Ursula von der Leyen und all die Bosse der Pharmariesen und der Krankenkassen noch heute in Saus und Braus.


* Die Preußische Meile entspricht 7,532484 Kilometer.

22. Volumen
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06.07.2012