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A Christmas Carol
Überholter Dickens hält sich hartnäckig

David Katz
Alle Jahre wieder! Charles Dickens' Christmas Carol flimmert in Dutzenden Versionen über die Mattscheiben der Nation. Die Geschichte rührt die Herzen der Gläubigen wie jede ähnlich gestrickte Bekehrungs-Sage. Der Kleine Lord kocht auf derselben Flamme. Doch was steckt hinter dem Motiv, mit dem Dickens es so gut gemeint hat? Dickens... er fasste die sozialkritischen Themata seiner Zeit mit erzählerischer Wucht und großer Kühnheit an. Aber er dachte sie nicht zu Ende. Und das ist die eigentliche Tragödie. Es bringt nichts, den Menschen Märchen zu erzählen. Dann kann man ihnen auch Schnaps unter den Tannenbaum stellen.

Wer ist denn dieser Ebenezar Scrooge? Ist er nicht ein Produkt nicht nur seiner Zeit, sondern einer ganz normalen menschlichen Gesellschaft? Hat nicht Scrooge es nur besser als alle anderen verstanden, sich in genau diese Gesellschaft, ihre Prämissen und ihr Gefüge einzubringen? Der Landbote ist kein Kampfblatt des Kommunismus, weiß Gott nicht! Aber diese sentimental-süßliche Verlogenheit, die dem Konzept der Dickens'schen Weihnachtsgeschichte zugrunde liegt, bringt das Blut zum Kochen! Was will Dickens erreichen? Das, was die Sängerin Nicole Hohloch 1982 mit ihrem "bisschen Frieden" zusammenträllerte? Das Konzept des Ebenezar Scrooge lautet: Nimm, wo du's nehmen kannst und das gnadenlos! Wer verliert, ist raus aus dem Spiel. Sozialdarwinismus pur. Dickens stellt dieses Programm nicht im Mindesten in Frage. Er möchte lediglich mit blander Hand etwas abmildern. Nimm dem Armen das Häuschen, aber wirf ihm ein paar Groschen hin, damit er sich das Elend noch schön saufen kann. Ein Zyniker möchte einwenden, es sei weitaus grausamer, auf diese Weise das Elend des Verlierers noch zu verlängern. Das knallharte Geschäft des Geldes verträgt keine Weichherzigkeit, kein Mitgefühl und keinen Altruismus. Für eine ausgeglichenere Gesellschaftsordnung fehlt es den Menschen an der nötigen Reife und das bis auf den heutigen Tag.

Dickens aber fährt noch härtere Geschütze auf. Er bringt eine höhere, nämlich die göttliche Ebene mit ins Spiel. Damit degeneriert er den erfolgreichen Geschäftsmann Scrooge zu einem Kleinkind, das einer Erziehung bedarf. Nun lässt sich Erwachsenen schlecht vermitteln, dass ihresgleichen durch Gleichrangige belehrt werden sollten. Die Borniertheit des unreflektierten adulten Lesern hätte die Lektüre spätestens an dieser Stelle unterbrochen, insofern er zu der Zielgruppe zählte, die Dickens erreichen wollte. Also schickt der Dichter eine höhere Instanz voran: Gott selbst. Gott richtet sich an sein Geschöpf Scrooge mittels der drei Geister, die SEINE Botschaft von einer besseren Welt zu überbringen haben. Einer besseren Welt? Einer Welt, die nach Leibniz' Deutung schon die beste aller möglichen Welten ist, was die Laus Voltaire in seinem genialen "Candide" mit so unnachahmlich spitzer, intelligenter und süffisant-sarkastischer Zunge verhöhnte? Will Dickens ernsthaft Gott klarmachen, wie der die Welt besser hätte einrichten können, eine Welt, die seit viereinhalb Milliarden Jahren funktioniert? Gott schafft also seine Welt nach seinem Plan, deren integraler Bestandteil dieser bestangepasste Ebenezar Scrooge ist – und dann wird Scrooge bestraft, weil er sich so exzellent in das System einfügt? Wie widersinnig ist das denn? Ihm wird gar mit der ewigen Verdammnis gedroht. Nach Dickens' Interpretation muss Gott die Keule "Todesangst" schwingen, um sein Spitzenprodukt Scrooge umzupolen. Das stimmt doch alles hinten und vorne nicht. Es ist und bleibt ein Märchen – ein dämliches noch dazu. Es spricht nicht für das Volk, dass die Weihnachtsgeschichte ungleich populärer ist als beispielsweise Oliver Twist.

Die Lektüre von Dickens' Werken macht unverblümt auf die Kehrseite, die Brutalität und die Erbarmungslosigkeit des evolutionsgesteuerten Lebens in Gottes einziger Biosphäre aufmerksam, die den Menschen bislang zugänglich ist. Das ist ein Anfang. Diese Welt aber zu ändern, bedarf es keiner psychoanalysierenden oder dräuenden Geister, sondern einer Revolution. Zugegeben keiner, die Laternen einwirft und Obrigkeiten an den Kandelabern aufknüpft. Die führen ja doch nur wieder zu den alten Verhältnissen im neuen Mantel. Es bedarf einer Revolution im Denken des Menschen, in seinem Geist, in seinem Fühlen – und genau diese Revolution ist nicht in Sicht. Sie kann es nicht sein, weil sie eben nicht dem Bauplan dieser Welt entspricht. Der Nackte Raubaffe ist demzufolge für sie nicht konstruiert, denn er ist eine Schöpfung dieser Welt und in ihr verhaftet. Ihn leiten Gier und menschliche Dummheit. Ein paar Lichtblitze der Vernunft haben den Motor eines friedvollen Zusammenlebens noch nie dauerhaft zünden können. Marx brachte es auf den Punkt: Die Aussicht auf den Profit lässt den Nackten Raubaffen jede Gefahr außer Acht lassen, jedes noch so irrationale Risiko eingehen, selbst auf die Gefahr des Galgens, selbst auf die Gefahr der ewigen Verdammnis. Das ist der Schlüssel, der die allseits beliebte Dickens-Weihnachtsgeschichte zu einem hohlen Märchen degeneriert. Ein Märchen, das niemand braucht, der sich in dieser Welt zurechtfinden will. Dennoch – alles Gejammer ist vergebens: Die Geister, die Dickens rief, werden wir nun nicht mehr los!

22. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
22.09.2012