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Besuch bei Effi Briest
Dritter Motorradtourenbericht des Preußischen Landboten

K. K. Bajun
Der Frühling ringt mit dem scheidenden Winter, der doch keiner war. An diesem Samstag, dem 15. März 2008, geht ein klarer Punktsieg an die anbrechende Jahreszeit. Ein blauer Himmel überwölbt das Land zwischen der Havel und ihrem Mütterchen Elbe, die Krokusse kämpfen sich durch das Gras der Wiesen, erste Knospen recken sich von den Ästen der Bäume der wärmer und wärmer werdenden Sonne entgegen.
Wir nutzen diesen Tag und beschließen der Freiin Effi Briest einen Besuch abzustatten. Kürzlich erst – wir gestehen unsere Schande – haben wir erfahren, daß Effi eigentlich Elisabeth von Plotho hieß und in dem Dorfe Zerben aufwuchs, in Sichtweise von Mütterchen Elbe gelegen, gar nicht so weit weg von der Chur- und Hauptstadt, von der unsere Reise ihren Ausgang nimmt.


Porträt der Elisabeth von Plotho

Unser rotes Zickchen, eine 600er Yamaha Diversion, kennt den Weg nach Westen zur Genüge und brummt selbstverloren über die schnurgerade nach Genthin führende Trasse der alten Reichsstraße 1. Erst am Genthiner Wasserturm, dort wo die Brücke den Elbe-Havel-Kanal überspannt, dabei die Bundesstraße 107 gen Havelberg führend, befährt die Maschine Neuland: Diesmal geht es geradeaus. Wir kreuzen die 107 und halten auf Parey zu.
Die Chaussee führt südlich des Elbe-Havel-Kanals beinahe parallel zu dieser Europäischen Wasserstraße. Es ist eine verschwiegene Landstraße – kaum befahren. Bergzow kommt in Sicht, wird im Rückspiegel wieder kleiner. Dann – Parey. Unter den Berufs- und Freizeitkapitänen hat Parey einen gewichtigen Namen. Die Schleuse Parey vermittelt den Schiffsverkehr zwischen der Elbe und ihrem ältesten, schönsten und größten Töchterchen – der Havel, dem Diadem der Mark Brandenburg. Hier zeigt der wichtigste Pegel der Gegend, Parey EP, auf 30,92 m Höhe die Wasserstände der Elbe an. Heute sind es 3,65 m (-7). Wenn Sie wissen wollen, was es mit der „-7“ auf sich hat, empfehlen wir die Konsultation der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Wir wissen es nämlich auch nicht.
Weiter geht die Fahrt an der Pareyer Paltrockwindmühle vorbei in Richtung des Dorfes Güsen. Daß wir uns in der Nähe der Elbe bewegen, zeigen die Überlandleitungsmasten an, die jedesmal in schwindelnde Höhen emporsteigen, wenn sich ihre elektrischen Strom führenden Trossen anschicken, den wasserführenden Strom tief unter ihnen zu überqueren.
Wir folgen dem Ihlekanal zur Linken und haben nach kurzer Zeit Güsen erreicht.
Wer des öfteren von Berlin nach Magdeburg mit der Eisenbahn unterwegs ist, kennt die Bahnstation Güsen. Als nächstes kommt Burg bei Magdeburg und dann ist es schon nicht mehr weit, bis die Türme des mächtigen Domes Kaiser Ottos und Erzbischof Wichmanns den Reisenden in der preußischen Festungsstadt und heutigen Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts begrüßen.
Doch – so sehr wir diesen Dom lieben – heute ist er nicht unser Ziel. Das liegt keine zwei Kilometer weiter westlich von Güsen, in den leiblichen rechtselbischen Auen.



Das Schloß derer von Plotho zu Zerben an der Elbe

Zerben heißt das Dorf. Still liegt es in die Landschaft eingebettet. Kein Lärm, kein Radau stört die ländliche Ruhe. Das Schloß derer von Plotho zu finden, respektive die beiden Gebäudereste, die von der einstigen Herrlichkeit noch übrig sind, ist nicht schwer.
Man hält auf die Kirche zu und siehe, da stehen sie. Nach Süden zu ist ein kleiner Park vorgelagert. Eine Schaukel lädt die Kinder ein, eine Bank mit Holztisch die Älteren. Da sitzen wir nun und schauen auf die beiden Gebäude, diesen verstümmelten Rest des einst größeren Baukörpers, der auf Geheiß der Roten Armee 1948 demoliert und abgetragen wurde. Warum? Auch das wissen wir nicht. Es heißt, Grundlage dieser Barbarei sei der Befehl 209 der Sowjetischen Militäradministration (SMA) vom 09.09.1947 gewesen. Doch dieser ordnete den Bau neuer Häuser und die Verteilung von Vieh für die Neubauern an. Warum also intakten Wohnraum vernichten? Es ist ein Rätsel.
Die beiden Häuser werden rekonstruiert und renoviert – von innen wie von außen. Strahlende weiße Schönheit. Hier also wuchs sie auf, die kleine Elisabeth von Plotho, für die das Leben und die menschliche Dummheit der anderen eine solche Tragik bereithalten sollte und die dennoch vom Schicksal spät entschädigt wurde. Erlebte sie doch noch, wie ihr Enkel Manfred von Ardenne seinen Weg zu einem der geachtetsten, universellsten und bekanntesten deutschen Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts heranwuchs. Als er dann den Stalinpreis bekam, war sie allerdings schon zwei Jahre tot. 98 Jahre hatte sie gelebt. Hatte sich nie aufgegeben, selbst als das heimatliche Gut in Konkurs ging, auch nicht, als sie zeitweise wegen des Reichsweiten Skandals aus den Familienbüchern derer von Plotho und von Ardenne gestrichen wurde. Sie arbeitete als Krankenschwester, lernte mit sechzig Jahren Skilaufen und mit 80 Radfahren. 1903 bestieg sie mit 50 Jahren als erste Frau den 2970 hohen Berg Scesaplana in den Alpen in der Nähe des Fürstentums Liechtenstein zwischen Österreich und der Schweiz.


Das Schloß zu Zerben von Nordwesten her

Dolle Frau – ein Idiot, der diese Frau nicht auf Händen trug, der hohler aber nichtsdestotrotz gesellschaftstragender Konventionen wegen das Leben des kunst- und feinsinnigen Richters Emil Hartwich und mit demselben Pistolenschusse seine eigene Familie zerstörte. Das unsterbliche Denkmal der Elisabeth von Plotho, das ihr Theodor Fontane mit seinem Jahrhundertroman „Effi Briest“ setzte, ist zugleich das ewige Schandmal des Kommisskopfes Armand Léon von Ardenne, Ehemann der Elisabeth von Plotho.
Während wir auf die Freifläche vor dem Schloß zulaufen, werden wir der großen horizontalen, in den Rasen eingelassenen und begehbaren Sonnenuhr gewahr, welche von der Gemeinde zu Ehren der Romanbeschreibung Fontanes im Jahre 2006 angelegt wurde. Es ist Punkt 12:00 Uhr als wir das Rondell erreichen. Ein Stunde haben die etwa sechzig Kilometer in Anspruch genommen.
Na ja, es ist Mittag nach der Wahren Ortszeit (WOZ), die der Mitteleuropäischen Zeit (MEZ) um etwa 12 Minuten hinterherhinkt. Das hat damit zu tun, daß sich die Mitteleuropäische Zeit am Meridian 15° östlicher Länge von Greenwich orientiert, der durch die niederschlesische Metropole Görlitz zieht. Da nun aber Zerben auf 11,8° ö. L. liegt und man den Längengrad zu vier Zeitminuten rechnet, ergeben sich 12 Verspätungsminuten. Und richtig. Als der Schatten des Schattengebers die römische 12 mittig passiert, zeigt die Armbanduhr 12Uhr und 12 Minuten. Geographie kann wirklich interessant sein, wenn man sie so leibhaftig erlebt.
Hier also soll sie gesessen haben, hier sprach der alte Briest nach Effis Tod die berühmten Worte: „Ach, Luise, laß…das ist ein z u weites Feld.“ Sie schließen den Roman, wie das blaue Band von Mütterchen Elbe das weite Feld der Aue vom Schloß bis hinunter zum Strome schließt.
Nachdenklich begeben wir uns zur Maschine zurück. Der Elektrostarter wirft die vier kraftvollen Zylinder an, es geht los.
Wir passieren die Zerbener Schleuse über den Ihlekanal. In das Oberwasser fährt gerade ein schwerer Pott ein und begehrt, abwärts geschleust zu werden. Er kommt von Niegripp und will wohl in Richtung Berlin.


Der Tanker „Da Capo“ im Oberwasser des Ihlekanals an der Zerbener Schleuse

Nach wenigen Kilometern kreuzen wir die alte Reichsstraße 1 bei Hohenseeden. In der Ortslage sind es ein paar Meter nach rechts, dann gleich links und schon haben wir Deutschlands traditionsreichste Ost-West-Verbindung wieder verlassen und halten uns in Richtung Ziesar.
Rechts gleitet die bis unter die Turmspitze mit wuchtigen Feldsteinen aufgeführte romanische Dorfkirche aus der Zeit um 1200 an uns vorbei. Wunderschön und wehrhaft erinnert sie an die Zeit, als die Christen des ostelbischen Raumes noch nicht zu hoffen wagten, in trauter Eintracht mit den ehemaligen und 1187 letztmalig und vollständig besiegten wendischen Herren des Landes leben zu dürfen. Das Dorf Sodun, das bereits 992 eine urkundliche Erwähnung fand, dürfte keine Wohnstätte für zartbesaitete Gemüter gewesen sein.
Vier Jahrhunderte später, in der Zeit des grauenhaften Dreißigjährigen Krieges, sah es noch immer nicht viel anders aus. Wegen einer angeblichen Behausung von Zigeunern wurde die Dorfkirche von marodierender Soldateska niedergebrannt.
Nun steht sie wieder in ihrer erhabenen romanisch-schlichten Schönheit. Alleine sie wäre schon mal einen Ausflug wert. Doch heute ist sie im Programm nicht vorgesehen und so verlassen wir Hohenseeden nach Osten.
Auch hier sind die Straßen von exquisiter Qualität. Die Maschine rollt ruhig mit festem Griff. Die Kurven sind angenehm und bei mäßigem Tempo stabil zu durchgleiten. Nur einmal, kurz vor Schattberge, da sollte man die Hand vom Gas nehmen. Das geht beinahe 90° nach Steuerbord und ziemlich überraschend dazu. 50km/h – nicht mehr!
Zwischen Schattberge und Gladau – wir segeln mit etwa 75km/h durchs flache Land – will eine rot-weiße Katze wissen, was das Leben wert ist – ihres wie unseres. Wir verfehlen den kleinen Feliden um höchstens 20 cm. Hinter unserem Heck saust der kleine Kamikaze vorbei in die rettende Weide. Wahrscheinlich sitzt uns beiden der Schreck zutiefst in den Knochen. Uns gemahnt der Vorfall daran, daß wir die Landschaft mit Geschöpfen teilen, denen die StVO nicht soviel sagt. Wir sind in der Pflicht uns anzupassen – denn die Kreatur vermag es nicht.


Die Zerbener Sonnenuhr, im Hintergrund die Zerbener Dorfkirche

Wir verlassen Gladau und erreichen Dretzel am westlichen Rande des Fiener Bruchs. Und der Atem bleibt uns weg: Ein frühklassizistisches Schloß erhebt sich als zweistöckiger und kompakter Baukörper backbords inmitten einer großzügigen Parkanlage in unmittelbarer Nähe zur Straße. 17 Fenster breit ist die Front des zwischen 1807 und 1810 errichteten Baus. Sehr beeindruckend, weiß Gott!
Hinter Dretzel erreichen wir in einem kleinen Kreisverkehr (!) die Bundesstraße 107. Geradeaus geht es über das Most-Städtchen Tuchheim nach Ziesar, oder Zicken-Tirol, wie die alten Brandenburger despektierlich zu sagen pflegen. Doch wir entscheiden uns gegen die Residenz der Brandenburger Bischöfe und wenden uns nach Norden. Schnurgerade hält die Fernstraße am Westrand des Fiener Bruches auf Genthin zu, das wir nach reichlich 8 km erreichen.
Wir bleiben südlich der Bahntrasse zwischen Magdeburg und Genthin, immer an den Geleisen entlang, vorbei am alten Wasser-Hochbehälter der Eisenbahn und verlassen die Persil-Stadt nach kurzer Zeit wieder in Richtung Südosten auf das Dorf Karow zu.
Karow lieh der Saale-Eiszeitlichen Karower Platte ihren Namen, an deren Südrand das liebliche Fläming-Flüßchen Buckau zum Ende der Weichselkaltzeit einen gehörigen Schwemmkegel aufschüttete.
Weit erstreckt sich die Ebene nach Süden. Am Nordrand des Fiener Bruches haben wir die Karower Platte erklommen und sehen nach Süden hinab in die weite Talfläche, die sich bis nach Ziesar und darüber hinaus erstreckt.


Der Schattengeber der Sonnenuhr zu Zerben am 15. März 2008 um 12:00 Uhr, 52,3°N; 11,9°O;

Der Boden hier muß etwas taugen, denn immerhin war Zitz, das wir nun erreichen, die Gemeinde mit der DDR-Muster-LPG schlechthin. Aus der Mongolei gar kamen die Genossen Kolchosbauern um von den Zitzer Bauern zu lernen. Ob sie in ihrer Steppe etwas vom Gesehenen profitieren konnten, wissen wir nicht. Daß aber die Zitzer Bauern schon in der Vergangenheit keine bettelarmen Schlucker waren, verrät uns der wuchtige Kirchturm der Dorfkirche, der zwar nunmehr etwas desolat und verfallen, aber immer noch trotzig in die Lande schaut. Zitz liegt hinter uns und wir erreichen die Kreuzung der Straße, die von Wusterwitz nach Ziesar führt. Gleich dahinter liegt Rogäsen, das Schilfdorf, wie der slawische Name verrät, aber es ist nicht das Schilf sondern der feine Waffelduft, der uns als erstes in Rogäsen begrüßt. Denn gleich hinter dem Ortseingang steht die Fabrik von Stenger Waffeln und hüllt die Landschaft in einen verführerischen Duft. Schade! Heute ist Samstag. Das Gelände liegt verschlossen da. Unter der Woche lohnt es sich anzuhalten: Der Fabrikverkauf nacht das Auffüllen der Reisefutterkiste günstig.
Noch einmal erklettern wir mit der Maschine einen Höhenzug der Karower Platte, als wir Rogäsen in Richtung Viesen verlassen. Noch einmal sehen wir auf die flache, weite Niederung herab, über der sich ein beinahe ostpreußisch weiter Himmel wölbt. Wir tauchen in einen Wald ein, etwas südlich der Alten Heerstraße von Magdeburg nach Kiew und erreichen Mahlenzien, das zu DDR-Zeiten eher der Wohlstandsantipode zu Zitz gewesen ist. Nun hat es sich gemausert, ist ein Ortsteil von Brandenburg an der Havel geworden, beherbergt dessen Wasserwerk. An diesem vorbei kämen wir hoch zum Standort der alten Räuberschänke „Radkrug“ und zum Hohenzollernstein. Wir halten uns aber nach Süden, verlassen den Ort bei der Buckaubrücke und durchqueren noch einmal kurvenreich eine Landschaft, die der Traumzeit entsprungen scheint. Zwischen dem nächsten Dorfe Wenzlow und dem angrenzenden Grüningen plätschert das Flüßchen Verlorenwasser, die einzige Tochter der Buckau, dieser wahrhaftigen Fee unter den Brandenburger Gewässern, wenn man den bis dahin etwa gleichlangen Riembach bei der Birkenreismühle zwischen Rottstock und Buckau als „Schwester“ ansieht.
Wenzlow, zwischen uns und dem Brandenburger Vorort Wilhelmsdorf liegen jetzt noch einmal 10 km herrliche Motorradstraße durch waldreiche Gegend. Brandenburg an der Havel, Plane-Fluß, Steintorturm, Dominsel – home at last. 120 km – vier Stunden. Watt’n herrlicher Ausflug! Watt ’ne scheene Jegend, in die de Branneborcher leben duat. „Heimat,“, so spricht der römische Legionär, „Heimat ist da, wo es mir gut geht.“ Jau, so is dat wull! Und hie jeiht us dat gaud, dammich gaud. Weil Havelwasser durch unsere Adern fließt, weil hier die Birken ihre Kronen in den azurblauen Himmel strecken und die Kiefern den märkischen Wind durch ihre Nadeln singen lassen wie sonst nirgends auf der Welt. Weil hier eine Fee in Gestalt eines Flüßchens mit sanftem Wellenschlag die märkische Scholle streichelt. Weil es wohl kaum etwas Schöneres gibt, als mit einer starken Maschine durch dieses Land zu gleiten.


Krokusse im Zerbener Frühling

11. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2008