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Die Zukunft wird wild
Das ZDF wagt einen dramatischen Ausblick ins Jahr 2030

Don M. Barbagrigia
Na, wer hätte das gedacht! Gerade das ZDF, von dem wir eigentlich kaum noch mehr als stetigen Schwund erwartet hatten, meldet sich mit Pauken und Fanfarenschall zurück. "2030 – Aufstand der Jungen" heißt die "Doku-Fiction". Ja, aber hallo! Schöne Grüße nach Mainz. Das war doch mal ein cineastischer Hammerschlag. Ungeschminkt thematisiert das Zweite, mit dem man am 11. Januar 2011 zwischen 20:15 Uhr und 21:45 Uhr wirklich einmal besser sah, einen erschreckenden, einen ungeschminkten Blick in eine brutale Zukunft, nur 20 Jahre entfernt. Zwei Jahrzehnte – das ist gar nichts. Vor zwei Jahrzehnten fiel die Mauer und das war gestern. Das Szenario, welches von den Mimen des ZDF etwas unbeholfen, aber dafür umso sympathischer und authentischer gezeichnet wurde, hält sich strikt an einen roten Faden, an dem bereits heute schon gesponnen wird: Entsolidarisierung, eine aufklaffende Wohlstandsschere, demographischer Wandel und ein Gesundheitssystem, in dem der Name Hippokrates keine Glocke mehr zum Läuten bringt.
Dabei brauchten die Macher des Streifens nicht mal besonders viel Phantasie zu mobilisieren. Für etwa 90 Prozent der Weltbevölkerung ist das alles bereits Realität, was dort gezeigt wurde. Das – und weitaus schlimmeres. Der Plot war simpel. Ein "Millenniumskind" namens Tim Burdenski versucht die nationale Datenbank zu fälschen, um seiner Freundin, die ein hohes Darmkrebsrisiko mit sich herumträgt, einige Vorteile zu verschaffen. Denn die Krankenkassen versichern längst nicht mehr jeden und alles. Wer genetisch für ein Krankheitsbild prädisponiert ist, der zahlt sich entweder dumm und dämlich oder aber er ist ganz draußen. Städtische Kliniken nehmen zwar im Gegensatz zu vielen privatisierten Häusern noch jeden Patienten an, wie er dann aber versorgt wird, steht auf einem anderen Blatt. Diese Frage stellt sich auch für besagten Burdenski. Die Polizei, die ihn wegen seines Betrugsversuches inhaftieren wollte, schießt auf den Flüchtigen und verletzt ihn schwer. Zunächst irrt der herbeigerufene RTW 25 Minuten durch die Stadt. Zwei Kliniken weisen den Schwerverletzten ab. Der Notaufnahmearzt des Städtischen Klinikums schließlich erklärt der Journalistin Lena Bach, die den Fall recherchiert, man wisse oftmals bereits nach dem ersten Blick auf die Patienten, wieviel die Behandlung kosten wird und wieviel die Kasse maximal besteuert. Ein Wert, der unter 50% valuiert, schockt den Zuschauer. Er schockt ihn? Ja, aber warum denn? Diese Entwicklung läuft doch schon seit zwei Jahrzehnten – und in den U.S.A. ist das bisher Fabulierte seit eh und je Realität! „Unknown or bad insurance? Here you get a band-aid and – go! Out of here! There is the hospitals's exit!“ Burdenski kann mit der Hilfe eines sozial engagierten Pflegers aus dem Krankenhaus entkommen, indem dieser ihm einen Totenschein ausstellt. Der Totgesagte flüchtet in einen Stadtbezirk Berlins, der ähnlich der Bronx oder L. A. South Central zu den sogenannten NoGoAreas zählt, einem Elendsviertel, das längst der Kontrolle des Staates sowohl als auch dessen „Segnungen“ entzogen ist. Es ist Dantes Hölle: Wer hier eintritt, der lasse alle Hoffnung fahren. Müde werden die Brasilianer in den Favelas, die Neger in den Townships und die Philippinos aus den Slums von Manila abwinken. Verglichen mit denen geht’s doch den deutschen Outlaws immer noch relativ gut! Die Kulisse erinnert ein wenig an Leipzig 1989. Auch nichts neues. Einigen wir uns darauf – den gemeinen Wohlstands-Wessi wird’s gruseln. In diesem Ghetto lebt man ein Leben der Ausgestoßenen – keine Rechte mehr, aber auch keine Pflichten. Das Steueraufkommen dieses Stadtteils dürfte bei Null liegen. Jeder Obdachlose wird wohl sagen: Kenne ich! Ja, die Saat der Phänomene, die dem demographischen Wandel, dem Abstieg Deutschlands als Wirtschaftsmacht und dem Werteverfall quer durch alle Schichten der Gesellschaft geschuldet sind, ruht schon in fruchtbarem Boden. Erste zarte Triebe rankeln bereits am zusammenbrechenden Überbau des Staates empor.
Der düstere Blick, den das ZDF seinen Zuschauern zur besten Sendezeit orakelnd offeriert, macht den Landboten nicht weiter nervös. Zu lange schon tuten wir in dasselbe Horn. Was uns vom Hocker holt, ist, dass das staatstreue Zweite solche Töne anschlägt. Das ist ja, als ob der Bayerische Rundfunk einen Sabbat-Gottesdienst übertrüge oder PRO7 plötzlich Fernsehen mit Niveau böte. Ja, Donnerwetter und Chapeau! Selbst die Qualität des Gezeigten war sehr ordentlich und hob sich wohltuend von dem reißerischen amerikanischen Stil ab. Fein gezeichnet wurden so die sozialkritischen Konturen weitaus deutlicher sichtbar. Und noch etwas nahm drohend am Fernsehhorizont Gestalt an: Der Wert, den ein merkantil orientiertes, früher sagte man kapitalistisches System dem einzelnen Menschenleben beimisst: Dieser Wert orientiert sich bis auf die dritte Stelle hinterm Komma an der Fähigkeit des Einzelnen, sich auf einem neoliberalen Markt zu behaupten. Am meisten zählen die, die anderen effektiv in die Tasche fassen. Sodann kommen jene, mit deren Hilfe man andere melken kann und überflüssig ist der ganze Rest. Wie sagte schon jener interviewte Gesundheitsexperte aus dem Film, was der Aufnahmearzt dann auch umgehend bestätigte: Wenn sich ein letales Problem biologisch löst, bevor die erste Kanüle liegt, spart das eine Menge Behandlungskosten. Schöne neue Welt!

 
B
9. Volumen

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12.11.2011