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"Externe Beiträge"
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Vor
genau 90 Jahren verfasste die damals noch zwei Tage lang 30jährige
Frau
Dr. Else Weil,* erste Frau Kurt Tucholskys und die Claire Pimbusch
aus “Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte”
den folgenden Beitrag für die Weltbühne vom 17. Juno 1920, S.
724 ff. , den wir der von nationalsozialistischem Mordgesindel in Auschwitz
umgebrachten Frau Dr. Weil zu Ehren abdrucken. Man klopfe den Artikel
getrost auf seine Aktualität ab, wobei sicherlich auch kassenseitig
begründete Gegenargumente aufzuführen wären.
Die originale Rechtschreibung
wurde beibehalten.
Für die freundliche Unterstütung
bedankt sich der Preußische Landbote ergebnst beim Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum
zu Schloß Rheinsberg.
Kassenärzte
von Else Weil
Die Veröffentlichungen der
an den Kassen interessierten Aerzte in den Tageszeitungen zeichnen sich
durch jenen maßvollen Ton aus, den die Verfasser als eine Forderung
ihrer Berufsehre bezeichnen. „Es sind Verhandlungen im Gange...“
„Die Möglichkeit einer Erhöhung der Aerztehonorare ist
nicht von der Hand zu weisen...“ „Eine Diskussion über
die Erwägung der Anbahnung der freien Aerztewahl ist anzustreben...“
So versucht der Arzt bescheiden, den Laien auf seinen Existenzkampf aufmerksam
zu machen, und er hat es damit nicht leicht.
Seine Gegner sitzen nicht nur in den Massen. Sie sitzen auch im eigenen
Lager. Es sind jene bourgeoisen Vertreter eines akademischen Standes,
die sich einbilden, die Diskutierung von Gehaltsfragen sei stets beschämend
und unter der Würde der Aerzte, was ungefähr so unsinnig ist,
als wolle man die Aussprache über die Nützlichkeit chirurgischer
Apparate als Berufsgeheimnis behandeln. Nur sind die nicht halb so wichtig
wie die wirtschaftliche Basis einer Berufsgruppe. Nach der wird sie eingeschätzt.
Auf ihr beruht ihr Lebensniveau, die Art ihres Wirkens und die Möglichkeit
weiterer Entwicklung. Daß der Arztstand eine soziale Einrichtung
ist – wie die Kassen immer dann behaupten, wenn sie mehr zahlen
sollen – , ist richtig; ich habe aber noch nie gehört, daß
mir der Bäcker sein Brot deshalb billiger läßt, weil ich
einer sozialen Einrichtung angehöre. Ich halte es deshalb für
nötig, über die bedeutungsvollste Frage des Arztstandes offen
zu sprechen.
Bis jetzt mußte ein Arbeitnehmer mit einem Einkommen bis zu 9000
Mark versichert sein. Die Erhöhung der Versicherungsgrenze auf 20
000 Mark unter den bisherigen Bedingungen bei einer beschränkten
Anzahl angestellter Aerzte bedeutet für die meisten von uns den wirtschaftlichen
Ruin. Die Mehrzahl der Privatpatienten setzt sich aus Leuten mit mittlerem
Einkommen zusammen. Eine Ausnahme macht die Praxis der Capazität.
Ich spreche hier vom Durchschnitt. Von der Praxis des Durchschnittsarztes
würden also alle Patienten bis zu einem Einkommen von 20 000 Mark
versicherungspflichtig sein und es auch dann bleiben, wenn sich das Einkommen
später erhöht. Diese Patienten gehen der Privatpraxis verloren,
werden Kassenpatienten und dürfen nur von einer ganz besonderen Anzahl
angestellter Kassenärzte behandelt werden. Die Privatärzte werden
dadurch zum größten Teil brotlos.
Wie steht es nun um die Kassenärzte? Die wirtschaftlichen Anstellungsbedingungen
für die Kassenärzte lassen die zwei Möglichkeiten zu: entweder
er untersucht und behandelt seine Patienten gründlich und gewissenhaft
und verhungert dabei; oder er läßt es die Masse machen und
erledigt einen großen Schub Patienten oberflächlich und fabrikmäßig.
Der Kassenarzt bekommt zur Zeit von einer großen Kasse monatlich
2,80 Mark für jeden Patienten, gleichgültig, ob er diesen Patienten
täglich behandelt oder nur ein einziges Mal. Nehmen wir an, daß
der Patient wöchentlich ein Mal kommt, so beträgt das Honorar
für jeden Besuch siebzig Pfennige. Nun ist ein Arzt imstande, bei
gründlicher Untersuchung in einer Stunde höchstens sechs Patienten
zu erledigen; demnach haben wir einen Stundenlohn von vier Mark. Der Patient
wünscht anständige Untersuchungs- und Warteräume, aufmerksame
Bedienung, einen sauber gekleideten Arzt, helle Beleuchtung und vorzügliche
und gepflegte Instrumente. Dieser Etat ist bei einem Stundenlohn von vier
Mark nicht zu bestreiten. Er ist nur zu bestreiten, wenn der Arzt nicht
sechs, sondern – wie in den militärischen Revierstuben –
sechzig Patienten in der Stunde erledigt, jeden einmal die Zunge herausstrecken
läßt und seinen Namensstempel unter irgendein fertiges Rezept
drückt. Eine solche Entlohnung des Arztes durch die Kassen ist keine.
Da behaupten nun die Kassenvorstände, es sei die soziale Pflicht
der Aerzte, keine höheren Honorare zu fordern. Dieser sozialen Pflicht
stehen keine sozialen Vorrechte gegenüber. Unabhängig von ihrer
sozialen Pflicht sind Apotheker, ärztliches Hilfspersonal, die Kassenangestellten
selbst in ihrer Entlohnung erhöht worden. Der Arzt nicht. Nun hat
aber nicht nur der Arzt eine soziale Verpflichtung, sondern auch die Kasse
hat eine, und sie hat sie gegen den Patienten und den Arzt.
Die Kasse bezahlt den Arzt so schlecht, daß sie ihm eine gründliche
Behandlung unmöglich macht, und daß er nicht imstande ist,
sorgenlos, in Ruhe wissenschaftlich zum Wohle seiner Patienten weiterzuarbeiten.
Das ist unsozial gegen den Arzt gehandelt. Die Kasse verbietet in einem
alljährlich erscheinenden Buch dem Arzt, eine große Anzahl
von Medikamenten zu verschreiben, weil sie zu teuer sind. Sie verweist
auf Ersatzpräparate. Weitere Medikamente werden in ihrem Gebrauch
eingeschränkt. (So dürfen Eisenliköre bei dem heutigen
schlechten Ernährungszustand nur alle vierzehn Tage verschrieben
werden.) Die meisten Paragraphen dieses Buches verbieten etwas, und bei
Uebertretung dieses Verbotes muß der Arzt Strafe zahlen. Die Kasse
liefert ihren Patienten schlechte Brillengestelle, sodaß der arme
Kerl lieber etwas zuzahlt, damit ihm das Leseglas überhaupt auf der
Nase sitzt.
Der Arbeitgeber gibt dem Kranken zum Arzt einen Schein mit, von dem der
Arzt einen Teil für sich als Liquidationsausweis für die Kasse
behält und einen Teil dem Patienten zurückgibt; auf beiden Abschnitten
soll die Krankheit in deutscher Sprache vermerkt werden. Der Arbeitgeber
hat das Recht, den Kassenzettel des Patienten zu sehen. Es besteht die
Möglichkeit, daß der Arbeitgeber Veranlassung nimmt, dem Patienten
(zum Beispiel bei einer Geschlechtskrankheit) zu kündigen oder ihm
bei seinen Mitarbeitern zu schaden. Das ist von der Kasse unsozial gegen
den Patienten gehandelt.
Die Kasse mit der sozialen Pflicht hat als Höhepunkt etwas geschaffen,
was sie die vetrauensärztliche Untersuchung nennt. Wenn der Kassenpatient
von seinem behandelnden Arzt für drei Wochen krank geschrieben ist,
so wird er zur Untersuchung von einem Arzt, vor den Vertrauensarzt bestellt.
Der Vertrauensarzt kennt den Patienten und seine Krankengeschichte nicht
aus eigener Erfahrung. Der Vertrauensarzt untersucht, und er untersucht
im Interesse der Kasse, die ihre Ausgaben möglichst drücken
will. Wir haben also folgendes Bild: Der bisher behandelnde Arzt, sagen
wir: ein vertrauenswürdiger, anerkannter Spezialist, muß sich
diese Nachuntersuchung seines Patienten durch einen beliebigen praktischen
Arzt mittlern Kalibers gefallen lassen. Das ist nicht sozial gegen den
Patienten gehandelt.
In meinem Geschichtsbuch steht: „1881, 19. November, Kaiserliche
Botschaft an den Reichstag betreffend die Gesetzgebung zur Förderung
des Wohles der Arbeiter. Darauf 1883 Gesetz über Krankenversicherung.
1908 waren 3 Millionen Reichsangehörige gegen Krankheit versichert.“
Die Gesetzgebung über die deutschen Krankenkassen ist durchaus wilhelminisch:
eine glänzende Fassade und nichts dahinter. Es ist ganz und gar jenes
Deutschland, das nun an sich selbst zusammengebrochen ist: formal und
auf dem Papier ist alles da, aber die Praxis ist jämmerlich. Und
dem kranken Arbeiter und dem kranken Bürger ist nicht damit gedient,
daß die Statistik nachher ein strahlendes Bild abgibt, und daß
sich der Staat formal, aber nur formal, seines kranken Angehörigen
annimmt – der will geheilt werden, und man soll ihm helfen. Ob das
überhaupt bei der Finanzlage des Deutschen Reiches möglich ist,
steht dahin – daß es so nicht möglich ist, wird täglich
klarer.
Der Arbeiter, der jährlich 9000 Mark verdient, muß sechs Prozent
Kassenbeitrag, also 540 Mark zahlen. Der Arzt 36 Mark. Von den übrig
bleibenden 504 Mark werden die Medikamente und die Unkosten für eine
etwa notwendig werdende Krankenhausbehandlung bezahlt. Und es wird davon
das bezahlt, was bei den Krankenkassen, wie bei allen deutschen Institutionen,
ins Maßlose angeschwollen ist, hemmend und störend sich als
das Zentrum der Dinge empfindet und den Zweck der Einrichtung auffrißt:
die Verwaltung.
Die Krankenkassen scheinen in erster Reihe für sich selbst da zu
sein. Wenn sie ein Zehntel der Sorgfalt, womit sie ihre Verwaltungsgebäude,
Kompetenzen, Instanzen, Büros und Formulare entwerfen, auf den Patienten
und seine Unterstützung verwendeten, wäre allen wohler. In den
Krankenkassen regiert der Tschinn.
Man soll dem Arbeiter nichts vormachen, wenn man zur Leistung unfähig
ist. Es ist viel anständiger, die formale Leistungsverpflichtung
der Kasse, die ja doch nur auf dem Papier steht, zu beschränken,
es ist viel anständiger, offen zu sagen, was man leisten kann und
was nicht, als in Festberichten und Geschichtsbüchern mit etwas zu
paradieren, das hohl ist und ein Schwindel. Bei Einschränkung der
immensen Verwaltungskosten der Kassen springt für Patienten und Arzt
immer noch so viel heraus, daß man im Gegensatz zum Zustand von
heute nicht immer so zu tun braucht, sondern daß man wirklich helfen
kann.
Letzten Endes dient die wirtschaftliche Hebung des Aerztestandes dem Patienten,
der instinktiv zu einem fundierten Arzt mehr Vertrauen hat als zu einem
halbverhungerten Barbier.
Unsere Forderungen sind:
Abschaffung des numerus clausus der Kassenärzte
Freie Arztwahl durch den Patienten
Erhöhung der Arzthonorare
Erweiterung des Kreises der zulässigen Medikamente
Verminderung der Verwaltungskosten der Kassen
Abschaffung der vertrauensärztlichen Untersuchung
Wenn sich bei einer
so gestalteten vernünftigen Reform manche Papierrechte des Patienten
nicht mehr aufrecht erhalten lassen, so erspart ihm das nur Zeit, Aerger
und Schreibarbeit für eine Sache, die ihm heute ohnehin mehr Kummer
als Hilfe bringt.
Auch der Aerztestand sollte aus einem eingebildeten Priestertum heraustreten
und gerade in der Betonung seiner wirtschaftlichen Forderungen zum Nutzen
Aller das werden, was er nun einmal zu sein hat: ein soziales Glied des
ganzen Volkes.
*
Der stellv. Chefredakteur des Preußischen Landboten, Kotofeij K.
Bajun, widmete Frau Dr. Else Weil enen Eintrag in der Wikipedia.
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