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Lehrernotstand!

Jules-Francois S. Lemarcou. Havelsee. Es ist fünf nach Zwölfe und das Kind ist in den Brunnen gefallen. Der Bundesrepublik gehen die Lehrer aus. Die Schüler, die ohnehin schon im Vergleich zu DDR-Oberschülern und Abiturienten mit einem erbärmlichen Grundwissen ins Leben entlassen werden, müssen nun noch größere Defizite in ihrer eh schon dürftigen Ausbildung erdulden.

Vor Jahren erboste sich anlässlich einer Gesellenfreisprechung im Dorfe Götz bei Brandenburg an der Havel ein Innungsmeister gegenüber Herrn Fjøllfross, es könne nicht Aufgabe des Handwerks sein, Bildungs- und Erziehungsdefizite aus der Grundschulzeit zu kompensieren. Den angehenden Lehrlingen fehle es buchstäblich am kleinen Einmaleins und den Grundregeln des zivilisierten Benehmens.

Dass dieses Problem in die zukünftige Gesellschaft hinein kaskadiert, liegt auf der Hand. Uns bleibt nur, die Ursachen dieser Bildungskatastrophe zu benennen.

Doch wo anfangen? Jede Wirkung hat ihre Ursache, jede Aktion spiegelt sich in ihrer Reaktion. War es die aus preußisch-kalvinistischem Erziehungsterror, entstanden aus Hunger und Entbehrung, geborene und den Kindern eingebläute Subordination unter autokratische und starre Hierarchien – welche Deutschland dann auch folgerichtig in die Apokalypsen des 20. Jahrhunderts riss?

War es das unvermeidliche Kontra der Achtundsechziger, welches dieses Volk, was seit der Tragödie Heinrichs VII. von Hohenstaufen ebenso verzweifelt wie vergeblich um seine Einheit und seine innere Mitte rang, wiederum in ein Extrem, diesmal in ein entgegengesetztes, stürzte?

Ein Extrem, dessen Nachwirkungen sich bis auf den heutigen Tag noch immer fortwährend amplifizieren und ihren Zenit augenscheinlich noch lange nicht erreicht haben?

Dieses Volk, das die Not seiner partikularen Zerrissenheit immer wieder in eine Tugend des Föderalismus umzumünzen versuchte und doch ebenso oft von zentralistischen Diktaturen überrollt wurde, fand auch nie zu einem tragfähigen Konsens in Bezug zur Aufzucht seines Nachwuchses.

Gestern noch Matrosenuniform, Plastilin-Soldaten, HJ-Führerschnur und „hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie Windhunde“ – heute gendern, und Puppenspiel für zarte Jungs, Baggerschaufeln für taffe Mädchen und was dergleichen verquaster Blödsinn an beiden Polen des Erziehungsspektrums mehr ist.

Nicht, dass wir falsch verstanden werden! Mädchen und Jungen sind uns gleich viel wert. Rollenzuschreibungen dagegen sind uns überhaupt nichts wert. Sollen sie! Wir sind Preußen und Preußen bedeutet Freiheit des Einzelnen in seiner Art sein Leben zu leben.

Das ist es nicht, was uns umtreibt.

Es ist diese unendliche Beliebigkeit, mit der profilneurotische Pädagogen aus dem Wissenschaftsbetrieb und Erziehungswissenschaftler ihre Weisheiten hinausposaunen und die Lehrkörper darauf einschwören, den Transmissionsriemen zwischen ihren Hirngespinsten und den Schulen feste anzulegen. Leute, die glauben, die pädagogischen Weisheiten mit Löffeln gefressen zu haben und doch weder einen blauen Dunst von der Lebenswelt der nachwachsenden Generationen haben, noch die gesellschaftlichen Dynamiken einzukalkulieren verstehen, welche unablässig und von allen Seiten auf den Ausbildungs- und Lehrbetrieb einwirken.

Von einer Jugend, die konsequent zur Respektlosigkeit und zum Egoismus erzogen wurde, wie es uns die Spaßgesellschaft der Neunziger besonders drastisch vor Augen geführt hatte, war kaum zu erwarten, dass sie ihre Kinder wieder auf einen gesellschaftsverträglichen – wir reden ja schon nicht mal mehr von einem gesellschaftskonformen – Weg zurückführt.

Lehrer werden von Schülern beleidigt, gedemütigt, vorgeführt, drangsaliert, physisch und seelisch angegriffen und von den Verantwortlichen für diesen Irrsinn – allein gelassen.

Wen wundert es denn angesichts einer solchen Lage, dass sich niemand mehr, außer vielleicht ein paar unverbrannten Idealisten, für den Beruf eines Lehrers erwärmen mag?

Nun werden vermehrt „Quereinsteiger“ rekrutiert. Fachleute aus den Wissenschaften, die möglicherweise der schrecklichen Skylla der Drittmittelakquise und der ungesicherten Arbeitsverhältnisse zu entrinnen hoffen und dabei geradewegs im grausamen Schlund der schulischen Charybdis landen. Diese Spezialisten können dabei selten auf eine solide pädagogische Ausbildung zurückgreifen. Eine Schnellbesohlung, wie die der Neulehrer nach dem Kriege in der Ostzone, soll’s richten. Wir fassen uns entgeistert an die Birne.

Das ist der Indikator dafür, das wirklich Holland in Not ist. Land unter. Polen offen. Finis Terrae!

Politik lautet die Adresse der Verantwortlichen. Sie, deren hervorstechendstes Charakteristikum darin besteht, nicht ein einziges Mal weiter denken zu können als ein Schwein scheißt – also bis zur nächsten Wahl – hat’s systematisch und mit Vorsatz vergeigt.

Sie hat den Schülern den „konstruktiven Widerspruch“ in die DNA eingeimpft – geworden ist daraus die unerträgliche Aggression weiter Schülerkreise gegen die Menschen, die es als ihre Profession betrachten, diesen jungen Zeitgenossen den Weg in das eigenbestimmte Leben zu erleichtern.

Dazu kommt, dass sich die Ausbildenden schon immer in drei Kasten teilten, zwischen denen es keinen Austausch gibt: die Lehrer, und die überwältigende Masse der Pädagogen und Schulmeister. Wir brauchen wohl nicht dezidiert zu erläutern, in welche Richtung der qualitative Vektor bei dieser Aufzählung weist.

Mögen die Lehrer noch etwas bewegen – doch die sind so selten wie Bernstein am Ostseestrand.

Und auch sie werden von der Politik den Kindern und deren Eltern zum Fraß vorgeworfen. Eltern, die in ihrer eigenen Blödheit die ererbte Blödheit ihrer Rangen nicht wahrhaben wollen und deren Versagen konsequent dem Lehrpersonal anlasten. Zum Teufel damit!

Wir trauern keineswegs der preußischen Elementarschule nach, deren zentrales pädagogisches Element der Rohrstock war. „Nieman kan beherten Kindeszuht mit Gerten!“ dichtete bereits der große Barde Walter von der Vogelweide.

Aber es müssen zugunsten der Lehrerschaft wieder Grenzen gezogen werden. Grenzen des Umgangs mit diesen Leuten, die per se mit der Aushändigung ihrer Lehrberechtigung den Anspruch erworben haben, mit „Frau Lehrerin“ und „Herr Lehrer“ angeredet zu werden. Grenzüberschreitungen und -verletzungen jeglicher Art müssen einer knallharten und unnachgiebigen gesellschaftlichen Ächtung unterliegen.

Systemsprenger sollten dann unter sich versammelt werden und keinen Anrecht auf besonders intensive Zuwendung zu Lasten ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler begründen dürfen.

Nein, wir wollen weder die christlichen Kinderheime des Westens der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts in Westdeutschland noch die Jugendwerkhöfe der DDR zurück haben. Es geht nicht darum, die jungen Menschen in ihrem eigenständigen und unverwechselbaren Wesen zu brechen und zu systemkonformen, im Gleichschritt marschierenden, gesichts- und seelenlosen Marionetten zu formen. Niemals! Das wäre ein Krebsgeschwür, welches eine Gesellschaft, die von so einer Entartung betroffen ist, in spätestens drei Generationen vaporisiert.

Aber wir wollen eine Rote Linie, die da lautet: Bis hierhin und nicht weiter! Bis hierhin kannst du deine Bocksprünge vollführen – aber dahinter beginnt die absolut verbotene Zone. Verboten deshalb, weil ihr Betreten die Existenz der zivilisierten Gesellschaft als Ganzes gefährdet.

Es muss darüber hinaus eine eiserne und berechenbare Konsequenz geben, wenn es gilt auf provokante Grenzüberschreitungen zu reagieren. Die Freiheit des Einen endet – wie es das Grundgesetz weise formuliert – bei der Freiheit des Nächsten.

Das Klima an vielen deutschen Schulen ist vergiftet. Und ehe dieses System nicht gründlich gelüftet und drastisch reformiert wird, ist ein weiteres exponentielles und dramatisches Anwachsen des Lehrernotstands so sicher wie das Amen in der Kirche.

Diese Reform, eben weil sie an einem zentralen Punkt des gesellschaftlichen Lebens ansetzen muss, bedingt aber zuvor eine entsprechende Reform des vorherrschenden spiritus societatis. Ein grundlegender Paradigmenwechsel also in Bezug auf die Frage, wie sich diese Gesellschaft ihr weiteres Zusammenleben vorstellt.

Es ist die uralte Wahrheit: Demokratie bedeutet Freiheit – aber eben nicht unbegrenzte Freiheit. Und – Demokratie hat eine Grundverpflichtung zu kompromissloser Wehrhaftigkeit um sich selbst zu schützen.

Das ist das Erste, was Schüler lernen müssen. Der Frau Lehrerin dämlich gekommen? Nachsitzen bis Pflaumenpfingsten – und zu Hause Nachschlag, und wenn die Eltern das anders sehen, werden sie eben auch noch mal nachbeschult – und zwar mit Pauken und Trompeten.

Den Herrn Lehrer angegriffen? Schulverweis! Ab jetzt hast du einen Schulweg, der sich nicht mehr nach Minuten, sondern nach Stunden bemisst. Deine Freizeit kannst du auf der Bahn verbringen und dir dorthin schieben, wohin die Sonne nicht scheint. Immer noch Lust auf Terz? Na dann – es gibt auch Beschulungen in geschlossenen Umgebungen. Keinem Rechtsanwalt darf es möglich sein, solche Kanaille aus der Nummer rauszupalavern. Die Schule muss wieder eine ehrfurchtgebietende Institution sein!

Beim Schwänzen klappt es doch auch! Verstoß gegen die Schulpflicht – schwupps, steht die Polizei vor der Tür und eskortiert das faule Früchtchen in die Schule. Rechnung an die Eltern plus saftiges Strafgeld, wenn den Ellis eine entsprechende Verantwortlichkeit nachzuweisen ist. Geht doch!

Ja, der Disziplinarkatalog muss wieder den Gegebenheiten angepasst und vor allem umgesetzt werden.

Auch das Schanghaien junger, unsicherer und für den Lehrberuf völlig ungeeigneter Kandidaten, die nicht wissen, was sie sonst mit ihrem Leben anfangen können, führt nur zwangsläufig in die Katastrophe – sowohl für die Schüler, deren Eltern, die Schule und nicht zuletzt für die armen Teufel, die sicher eine bessere Geologin oder ein Brückenbauingenieur oder eine Bibliotheksleiterin geworden wären, hätten sie nur gewusst, dass ihnen diese Türen auch offen gestanden hätten.

Lehrbetrieb darf nicht zum Fronteinsatz werden. Nur dann – und nicht mit der Aussicht auf Verbeamtung, welche die Lehrer dann doch nur angesichts des täglichen Terrors mit Erfolg zur Frühpensionierung nutzen - wird man wieder einen pädagogischen Nachwuchs für den Beruf des Lehrers begeistern können.

Der Beruf des Lehrers darf nicht länger zu einem Handwerk der Gefahrenklasse V degradiert werden, sondern er muss das bleiben, wozu er einst bestimmt wurde: Eine Kunst, die mit Herz, Leidenschaft, Empathie und pädagogischer Brillanz ausgeübt wird – eine Passion eben – und keine Via Dolorosa!

Das Schulsystem der DDR war sicher nicht das Nonplusultra. Beileibe nicht. Dem westdeutschen verkorksten, dezentralisierten Schulchaos hingegen war und ist es noch immer um Größenordnungen überlegen. Finnland hat das seinerzeit übrigens begriffen und sich ganz unvoreingenommen an die Übernahme der DDR-Blaupause gemacht. Ideologische Borniertheit wirkt ubiquitär und eben auch in Westdeutschland desaströs – ob die Westdeutschen das wahrhaben wollen oder nicht.

Gebt den Lehrern also ihre Integrität und ihre Immunität zurück, zieht um sie einen Bannkreis der Unverletzlichkeit – nur dann, und nur dann werden sich die Reihen derer wieder füllen, welche die Gestaltung der Zukunft mit ihren Händen an den jungen Menschen entscheidend formen.

27. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
08.10.2022