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        Atmen unter WasserAnspruchsvolles deutsches Kino behauptet erfolgreich 
        seinen Ruf
 Kotofeij K. BajunIm Jahre 2008 meldete sich der deutsche 
        Film wieder einmal zurück: „Vom Atmen unter Wasser“ heißt 
        der Streifen, für den Winfried Oelsner Regie führte und der 
        aufhorchen lässt. Geschildert wird ein Familiendrama in den Ausmaßen 
        einer antiken Tragödie: Ein kleiner, siebenjähriger Junge versucht 
        sich die Liebe seiner Eltern zurückzuerzwingen, indem er seine kleine 
        Schwester in einem Überlandbus in die Welt hinaus schickt – 
        das Schwesterchen, das ihn erfolgreich vom Platz des Familienlieblings 
        verdrängt hat. Er erreicht das Gegenteil. Nach einer Stunde ist das 
        Schwesterchen zurück – er kassiert für den Versuch eine 
        harte Watschn von der Mama und ist noch beschissener dran als vorher. 
        Die Eltern reagieren stinknormal – hinterfragen also keineswegs, 
        warum der Junge so handelte, ändern nichts, leben jeder nach dem 
        Duktus der eigenen Gefühle weiter. Eine solide bürgerliche Existenz 
        also. Wir vermissen den Familienhund, der um die Beine des Papas herumwedelt.
 Vierzehn Jahre später studiert der entthronte Sohn, exzellent umgesetzt 
        von Adrian Topol, Medizin, steht vor dem Physikum, als ihn die Nachricht 
        ereilt, die Mama liege im Krankenhaus. Ein gescheiterter Selbstmordversuch. 
        Der Tochter ins Grab folgen wollte sie, denn die sechzehnjährige 
        Sarah war auf dem Heimweg von einer Party einem Mörder zum Opfer 
        gefallen. Jo, der Vater, eine Bewährungshelfer, gibt sein Bestes, 
        neben dem eigenen Schmerz auch seine Frau Anne noch zu stützen – 
        er bittet gar den Sohn Simon, das Studium zu unterbrechen, um wieder zuhause 
        einzuziehen.
 Meisterhafte Schauspielkunst – hier und da etwas zu prononciert 
        serviert – da machen selbst die empathischsten Spiegelneurone mitunter 
        schlapp – obduziert vor dem Publikum das Innenleben einer Familie, 
        bei der mutmaßlich schon vor dem gewaltsamen Tode der Tochter nur 
        noch die Fassade glänzte.
 Sogar Andrea Sawatzki, welche die zerstörte Mutter grandios verkörperte, 
        erwies sich als glänzende Botschafterin der – Bühnenkunst. 
        Ihre Ausbildung am Theater konnte sie nicht verleugnen – warum auch! 
        Die Transmission zu den wichtigen Inhalten gelang ihr damit doppelt so 
        gut. Seit Nosferatu sah man keinen so lebendigen Untoten mehr auf deutschen 
        Leinwänden wie diese Frau. Sie war, wie es im „Namen der Rose“ 
        heißt „verbranntes Fleisch“. Ihre Rettung auf der Intensivstation 
        – ein nachvollziehbar menschlicher und gebotener – dennoch 
        aber ein Fehler. Denn man holte Anne nicht ins Leben zurück, sondern 
        in einen Albtraum, aus dem nur der Tod sie hätte erlösen können. 
        Ein Albtraum, der sich nunmehr auf die anderen Protagonisten auszuweiten 
        begann, kein lebender Leichnam verzeiht, dass man seiner Seele die ewige 
        Ruhe verwehrt.
 Erfrischend, wie der Streifen quasi mit dem Vorschlaghammer gegen alle 
        süßlichen Klischees der deutschen Cineastik zu Felde zieht 
        – die Nachkriegsgeneration mit ihren Heile-Welt-Heimatfilmchen wäre 
        reihenweise in Ohnmacht gefallen: Brüderchen haßt Schwesterchen, 
        leidende Frau flüchtet sich nicht in die Arme ihres noch dazu schwächlichen 
        Mannes, sondern statt dessen in die innere Isolation. Das sowohl an Sarah 
        als auch damit an ihrer Familie verübte Verbrechen katalysiert quasi 
        lediglich deren schon vorher angelegten und damit unvermeidlichen, ja 
        geradezu vorgezeichneten Untergang auf sehr nachvollziehbare Weise. Ein 
        Happy-End gibt es nicht – am Ende eines guten Gedichtes sei die 
        Poesie kalt und leer, lehrt der Zen-Meister Joo-san. Das erreicht zu haben 
        ist eines der umwerfenden Ergebnisse, die uns diesen Film eine ausführliche 
        Besprechung wert sein lassen.
 Die Psychiaterin, welche Anne betreut, scheitert grandios... Großer 
        Gott, alleine dieser Topos auf dem Zelluloid wäre ein Grund, den 
        Film zu feiern.
 Familienmitglieder werden nur noch instrumentalisiert, echte Gefühle 
        für einander sind bereits seit langem so tot wie die erwürgte 
        Tochter– die Szene, in der Anne ihren Mann Jo umgarnt, um an die 
        Obduktionsunterlagen Sarahs zu gelangen, lässt einem das Blut in 
        den Adern gefrieren. Mit dieser gespenstischen Sequenz verwies Andrea 
        Sawatzki Christopher Lee ins Reich der fahlen Schatten.
 Jeder Beteiligte wird nur noch instrumentalisiert und lediglich Jo riecht 
        den Braten beizeiten und flieht in die Arme einer neuen Beziehung. Wenn 
        ein wunderbar ödipal agierender Simon nun meint, endlich den lang 
        ersehnten Platz an den Brüsten der Mama besetzen zu können, 
        so sieht er sich arg getäuscht. Noch immer ist er nur das Substitut, 
        das Bindeglied zum erschlagenen Nesthäkchen – er, der Medizinstudent 
        mit der großen Klappe und dem ausgeprägten Ego merkt nicht, 
        wie todkrank die von ihm umworbene Mama ist. Seit der Geburt der Schwester 
        gab es kein Platz mehr in ihrem Herzen für ihn – dieses Herz 
        ist nun vertrocknet – die mütterlichen Brüste schlaff 
        und leer. Er ist von dem traurigen Gespenst seiner Mutter zum erbärmlichen 
        Lückenbüßer degradiert, einzig dazu da, die Erinnerung 
        an Sarah aufrecht zu erhalten. Als er es dann doch irgendwann einmal realisiert, 
        richtet sich der Zorn ein zweites Mal gegen die ungeliebte Schwester. 
        Simon zerstört die Devotionalien, an die sich die Mutter so verzweifelt 
        mit all ihren Sinnen klammert. Wieder schickt er die Schwester ins Nichts 
        – diesmal unwiderruflich. Er, er, er ist doch auch noch da! Nein, 
        ist er nicht. Auch diese verzweifelte Aktion bringt ihm die Mutter nicht 
        zurück. Ganz im Gegenteil – sie versucht ihm das Leben zu zerstören, 
        indem sie ihm Elena abspenstig macht, zu der er gerade zarte Bande zu 
        knüpfen begann. Ist das Leben für sie gelaufen, darf es auch 
        für keinen anderen mehr weitergehen. Lediglich ihren nunmehr offen 
        ungeliebten Mann läßt sie klaglos und erleichtert scheiden. 
        Endlich stört sie keiner mehr bei dem sich der Realität immer 
        mehr verschließenden Versuch, sich in das Bett ihrer Tochter und 
        in die Erinnerungen an sie zu vergraben.
 Beeindruckend, wie sich periphere Gestalten vor den Karren der leidenden 
        Frau spannen lassen, wie sie abducken vor dem Schmerz einer Mutter, die 
        ihr Kind auf bestialische Weise verloren hatte, wie sie sich widerspruchslos 
        aberwitzige Schuldkonstruktionen zuweisen lassen, wie kaum jemand den 
        Mut findet, der untoten Mutter deutlich zu kommunizieren: „Der Mörder 
        hat deine Tochter getötet - nicht ich!“ Eine medeenhafte, furiose 
        Anne zieht auf diese Weise den ehemaligen Freund Sarahs mit ins Boot und 
        desgleichen deren ehemals beste Freundin Elena, die auf jener verhängnisvollen 
        Party mit Sarahs Geliebten herumgemacht hatte und damit den übereilten 
        Aufbruch Sarahs in ihr Verderben provozierte. Eine unglückliche Kausalkette 
        – die aber keine Verantwortlichkeiten seitens der Jugendlichen auslöst. 
        Nur – niemand traut es sich, das der entfesselten, der tyrannischen 
        Anne ins Gesicht zu sagen. Gut beobachtet, gut dargestellt.
 Von ein paar Holprigkeiten wäre aber zu berichten, Holprigkeiten, 
        die dem Film den faden Beigeschmack des Unglaubwürdigen vermitteln: 
        Anne, die vormals Krankenschwester auf der Intensivstation gewesen war, 
        schleicht sich in ihrer alten Dienstkleidung nächtens in das riesige 
        Krankenhausarchiv und stiehlt zielsicher die Obduktionsakte. Intensivschwester 
        und Meister-Archivarin in einer Person und in einem völlig ungesicherten 
        Akten-Depot voller sensibelster Daten – „das gibt’s 
        in keinem Russenfilm“, hätte unser lakonischer Kommentar seinerzeit 
        gelautet. Ebenso, dass sich die ältere, betreuende Krankenschwester 
        vor dem Zimmer der suizidalen Mutter von einem pickligen Viertsemester-Medizin-Jüngelchen 
        examinieren lässt, ob der Mutter ein Blutexpander infundiert worden 
        sei. Das ist realitätsfremd und fällt bestenfalls dem geistig 
        retardierten Laien nicht auf. Jede gediente Schwester würde in einer 
        solchen Situation den kleinen Uni-Laffen geharnischt beiseite treten lassen! 
        Da hülfe ihm auch nicht das Leid, welches er um seine sterbenswillige 
        Mutter trüge.
 Und – das ewige Problem des deutschen Films: Die Handlung spielt 
        im Breisgau-Freiburg. Allzu deutlich läßt Oelsner die authentischen 
        Kfz-Kennzeichen der schwäbischen Universitätsstadt durchs Bild 
        laufen – aber die Mimen parlieren samt und sonders ein geschliffenes 
        Hochdeutsch. Ja, fällt das denn keinem auf? Der Turm des Münsters 
        grinst uns an – aber unser Ohr bekommt nicht einmal die winzigste 
        Kostprobe hochschwäbischen Dialekts zu hören? Das ist albern. 
        Warum dann die Handlung nicht nach Potsdam verlegen, nach Magdeburg oder 
        Hannover? Das nimmt dem Film unterschwellig einiges von der Authentizität, 
        die gerade die hervorragenden Schauspieler so mühevoll erarbeiteten.
 Dennoch – unser Gesamteindruck konzentriert sich auf die Aussage, 
        die so brillant herausragt und in keiner lokalen Abhängigkeit steht. 
        „Vom Atmen unter Wasser“ ist ein Menetekel für alle, 
        die sich, statt zu leben und dem Leben die Stirn zu bieten, in eigenen 
        kleinen Welten abzuschotten und zu verkapseln versuchen. Wer sich den 
        eisernen Regeln des Lebens verweigert, den spuckt es aus. Knallhart vermittelt 
        dieser Film diese Erkenntnis. Dafür sind wir ihm zu Dank verpflichtet.
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