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Ein deutscher Junge im türkischen Gefängnis


M. L. Hübner
Frühlingsgefühle haben im Juni 2007 einen 17jährigen Uelzener ins Verderben gerissen. Er bandelte mit einem vier Jahre jüngeren Mädchen an – es kam zu intimeren Kontakten. Nun wäre das alles nicht so tragisch, wenn – ja wenn das Mädchen nicht Engländerin und wenn das Ganze nicht in der Türkei passiert wäre. Ist es aber.
Und jetzt geht die Hatz los. Das Mädchen, lang aufgeschossen, man könnte sie wirklich für 15 halten, meinte zuerst, die beiden hätten nur Händchen gehalten.
Später, sicher auf Druck der Eltern, erzählte sie eine abenteuerliche Geschichte, der Junge Marco hätte sich an ihrem sanft schlummernden Leib delektiert und vergangen, ohne sie allerdings penetriert zu haben. Der eilends herbeizitierte Gynäkologe bestätigte diesen Fakt – den zweiten Teil zumindest. Der erste Teil der Ausführungen der jungen Engländerin aber zeugt davon, daß entweder die englische Familie nicht ganz dicht ist, oder daß sie in aberwitziger Realitätsferne den Rest der Welt für bissel blöde hält. Wahrscheinlich bedingt hier Ersteres Letzteres. Das alles wäre noch immer kein Beinbruch – wenn nicht eine ganz offensichtliche Komponente hinzukäme, die uns widerspiegelt, wie die Nation der Königin aus dem Hause Sachsen-Coburg-Gotha, heute Windsor, das deutsche Volk 62 Jahre nach Kriegsende in einem vereinigten Europa immer noch sieht: haßvoll und bösartig bis in die Knochen.
Was soll uns ein Turmkreuz für die Dresdner Frauenkirche aus England, wenn ein Junge aus Deutschland, der die alten Völkerkonflikte wahrscheinlich nicht einmal mehr kennt, unter unmenschlichen Bedingungen in einem Gefängnis der Türkei einsitzen muß, dessen Zustände uns die Haare zu Berge stehen lassen? Was???
Nun hören wir, die Familie aus England hätte sich aus dem Staube gemacht und wolle ihre Ruhe vor dem Presserummel, den sie eingerührt hat. Vollmundig erklärten diese elenden Gesellen, nicht der Junge sondern ihre Tochter sei das Opfer. Das ist ein starkes Stück! Marco aus Uelzen sitzt für einen Scheißdreck fernab der Heimat in einem Knast, in dem er kein Wort versteht, in dem er unter dreißig Männern wie in Isolierhaft lebt, weil er sich nicht verständigen kann und der nur Angst und Bangen hat, wann er jemals wieder sein Zuhause, seine Familie, seine Freunde sieht. Die türkische Justiz, deren Staat von Kemal Atatürk einst eine großartige Chance geboten bekam ihren Weg nach Europa zu finden, beharrt auf ihren medievalen Ansichten. Die feinen Engländer zieht’s derweil in einen nächsten, womöglich noch von der Krone gesponserten Urlaub, allwo die junge Nymphe wiederum ihre Wirkung auf das andere Geschlecht erproben kann.
Dies alles spielt sich vor dem Hintergrund des Beitrittsbegehrens der Türkei in die Europäische Union ab. Der Landbote kam zu dem Schluß: Byzanz ja – aber die Türken, so, wie sie sich heute geben? Hat Europa nicht schon genug Probleme? Sollen sie bei den ASEAN-Staaten um Aufnahme nachsuchen. Da finden sie noch am ehesten Verständnis für ihre Kurden-, Armenier- und Griechenpolitik.
Bleibt Albion. Das ist traurig, fürwahr. Es ist bitter mitanzusehen, wie eine Nation wie diese in eine kollektive Unreife zurückfällt, die uns jeglicher Achtung beraubt. Wer die Ressentiments des Ersten Weltkrieges so auffällig tradiert, der ist irgendwo stehengeblieben. Kann John Bull, der Sieger des letzten Weltkrieges nicht verkraften, daß er zu den großen Verlierern gehört? Daß ihm sein Empire, sein Kolonialreich, seine Großmachtstellung abhanden kam und Großbritannien nur noch ein Annex seiner ehemaligen überseeischen Kolonie in Nordamerika ist? Müssen diese Hanseln das an einem Durchschnittsbengel auslassen, der von all diesen Dingen mit großer Sicherheit nicht einmal einen blassen Schimmer hat, nur weil er deutsch spricht und einen bundesdeutschen Paß hat?
England – das ist erbärmlich! Wir erkennen die Helden von Poitiers, Crecy und Agincourt nicht wieder. Wo ist das Volk Samuel Johnsons und William Shakespeares?
An die deutsche Regierung appellieren wir: Holt den Jungen nach Hause! Egal wie. Zeigt den ewig gestrigen Spinnern vom Bosporus und von der Themse, daß die ungeheuerlichen Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten kein Freibrief für eklatantes und schikanöses Verhalten von uns offensichtlich feindlich gesonnen Leuten darstellen, die da glauben, sie könnten ihr Mütchen an einem Kinde kühlen, weil sie auf dem internationalen Parkett mit jedem Tage weniger zu sagen haben.
Das Europa, das wir wollen ist ein Europa der Fairneß und der Gleichberechtigung. Fairneß ist übrigens ein Wort englischer Herkunft. Es gab eine Zeit, da wurde die englische Nation mit diesem Attribut charakterisiert. Schade, daß diese noble Eigenschaft dem Land der Gentlemen den Rücken gekehrt zu haben scheint. „Die Insel gebiert tapfere Kreaturen“, warnte einst der Herold der französischen Truppen, Montjoy, den Dauphin in Bezug auf die Männer Heinrichs des Fünften. Gemeint waren die ehrbaren Ahnen der ehrlosen Leute, die einen Jungen hinter Gitter bringen um sich dann selbst feige zu verkriechen.
Unser Europa sieht anders aus. Unser Europa hat sich ein halbes Jahrhundert dafür abgerackert, die Gräben von Verdun und Stalingrad zuzuschütten.
Wir sind nicht stolz auf unsere ignorante und verblödende Jugend. Wenn wir dem schlechten PISA-Ergebnis aber etwas Gutes abzugewinnen vermögen, dann ist das der Umstand, daß bis auf einige braune Canaillen kein Jugendlicher das Wort „Erbfeindschaft“ mehr kennt.
Wenn das einigen Herrschaften nicht gefällt, dann sollen sie ihre Pfund und Lire und gelüstigen Jungfrauen behalten und in ihren verstaubten Kammern hocken bleiben. Der Blutzoll des letzten Weltkrieges wurde gewiß nicht dafür entrichtet, daß heuchlerische EU-Mitglieder und -kandidaten unsere gemeinsame Zukunft mit der Vergangenheit belasten, die sie in ihren Herzen nicht zu bemeistern vermögen.
Einen anderen Grund für das völlig überzogene Verhalten der an dem Geschehen Beteiligten vermögen wir beim besten Willen nicht zu erkennen. Kein Italiener, Schweizer, Spanier, oder Grieche, Schwede, Däne, Pole oder Holländer würde wegen derselben Geschichte so wie der arme Marco jetzt im türkischen Gefängnis sitzen. Mit Sicherheit nicht! Laßt den Jungen nicht die Blödheiten der Urgroßväter entgelten! Holt ihn da raus! Holt ihn nach Hause!

10. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2007