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Menschlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland

B. St. Fjøllfross
Eine bösartige Frage in Ostberlin lautete seinerzeit, ob der Architekt des Fernsehturms bedacht habe, daß das Bauwerk im Laufe seines Bestehens einer verstärkten Belastung auf seiner westlichen Seite ausgesetzt sein würde. Denn so war es auch: Wer immer als Ostdeutscher nach stundenlangem Warten die Aussichtsplattform erklomm, der versammelte sich alsbald auf der entsprechenden Seite des Turmes und sandte sehnsuchtsvolle Blicke nach „drüben“. Dieser Turm nämlich bot bei schönem Wetter den einzig ungetrübten Blick in den „Goldenen Westen“, der von den Bolschewisten nicht verstellt werden konnte. Nur die Linientreuen standen demonstrativ auf der anderen Seite und blickten stolz die Stalin- (Verzeihung: Karl-Marx-) Allee und Leninallee hinunter und machten am Horizont die Errungenschaften des Sozialismus aus, bestehend aus den Arbeiterschlafregalen von Marzahn, Hohenschönhausen und Hellersdorf. Wenn dann die quengelnden Gören doch die peinliche Frage aufwarfen, was denn das für ein sich drehender dreiflügeliger Stern dort sei, na dort, neben dem kaputten Kirchturm, oben auf dem Dach von dem Hochhaus da, dann tuschelte ihnen der das Parteiabzeichen am Revers tragende Vater schnell zu: Das da ist Westberlin, mein Kind, da wohnen die bösen Ausbeuter, die den armen Leuten das Mark aus den Knochen pressen. Die Menschen da haben es nicht so gut wie wir hier, wo alle satt zu essen haben und ein Dach über dem Kopf, wo die Kinder in die Schule gehen und etwas lernen können und wo Mutti und Vati Arbeit haben.


Meist quittierten spätestens an dieser Stelle die Umstehenden diese Worte mit einem höhnischen Grinsen. Es konnte aber auch durchaus sein, daß sich die erste Stirn zu umwölken begann und drohende Blicke in Richtung des „Bonzenknechts“ warf, der sich spätestens dann überlegt haben sollte, welche Berliner Sehenswürdigkeiten er seinem Kinde noch zeigen sollte an diesem Nachmittag. Vielleicht die Pionierrepublik in der Wuhlheide? Oder dem Märchenbrunnen im Friedrichshain? Egal, weg nur weg von diesem vermaledeiten Europa-Center mit seinem Mercedes-Stern und der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Dieser Hort des Bösen! Der Rest aber derer, die sich auf der Westseite der Fernsehturmkugel aufhielten, wußte es besser: Daß das dort das Land war, in dem Milch und Honig fließen, sah man schon an den Hochhäusern in der Dieselstraße oder im Märkischen Viertel. Waren sie nicht so schön weiß und farbig, so aufgelockert und verwinkelt gebaut? So ganz anders als die drögen Klötze grau in grau, wie sie die D.D.R.- Einheitsarchitektur hervorbrachte. Da in Tegel hob gerade wieder ein Flugzeug ab. Wohin mochte es wohl fliegen? In den sonnigen Süden? In die Länder mit den warmen, azurblauen und türkisfarbenen Meeren und den weißen Stränden, den Palmen und dienstbaren Negern? Und so manch ein Ostneffe, so manch eine Ostnichte sah an ihren Jinglers oder Wranglers, Lewis oder Adidas herab und seufzte: „Wo ihr herkommt, da möchte ich gern hin!“


Aber wo ging’s am nächsten Tag statt dessen hin? Klar, in die polytechnische Oberschule, in der ein ausgegrabener Antifaschist mit Nahkampferfahrung den Kindern von den Schrecken der Zeit der Weimarer Republik erzählte und den darauffolgenden Jahren der Nazidiktatur.


Und wieder hob das allgemeine Grinsen an. Alle bis auf den FDJ-Sekretär der Klasse und Stasimariechen wußten Bescheid: Jürgens Onkel aus Kassel ist Maurer, schon seit drei Jahren arbeitslos. Und worin besteht nun sein Elend? Er fuhr seit jüngstem einen 220er Benz, hatte vorher einen Ford Mustang, den jetzt Jürgens 18jähriger Cousin Helmut übernommen hatte, der gerade aus Spanien zurückgekommen war. Zweimal im Jahr in den Urlaub, einmal Griechenland, einmal Mallorca oder Italien. Und einmal im Jahr in die Zone zu Besuch, wo er dann von seinen Reisen erzählte und wie er die Bimbos wieder hatte tanzen lassen und Jürgen Helmuts abgelegte Jeans geschenkt bekam. Für Mutti noch zwei Pfund Nescafè und für Papa eine Bohrmaschine. Black und Decker – Sonderangebot. Was für ein Fluch, die Arbeitslosigkeit! Man sah es. Aber da vorne an der Tafel stand der unbeugsame Kampfgreis und schwadronierte. Laber, laber, laber….Gähn!


Und heute? 14 Jahre nach der Wende, in der die reiche Bundesrepublik wie ein Tsunami über die banquerotte und ausgetrocknete D.D.R. geschwappt kam um sie endlich nach vierzig Jahren erlösend zu bewässern, damit sie sich die D.D.R. als blühende Landschaft und Vorgarten (Helmut Kohl und Egon Bahr) zulegen könne, auf dem Rückzug fast alles mit sich fortreißend, wie es die Art der Riesenwellen nun mal ist – was ist heute?


Jürgen sitzt jetzt in eigenen Jeans in der Schlange im Arbeitsamt. Der Ofen ist aus! Die reiche Bundesrepublik hatte schon Mitte der Achtziger abgewirtschaftet. Jedem, der nur im mindesten etwas von Nationalökonomie versteht, muß das ganz klar sein. Sie hatte sich im Glanz der Wirtschaftswunderjahre gerekelt, hatte weit über selbst ihre Verhältnisse gelebt und begann um diese Zeit schon ihr Tafelsilber zu verschachern. Erst ganz heimlich und Stück für Stück, dann immer mehr und die Arbeitslosenzahl stieg stetig Jahr um Jahr.


Jetzt brach die Krise offen aus, wie ein Flächenbrand, und vorbei ist es mit den fetten Jahren.


Angesichts dieser Entwicklung müssen wir ein ums andere Mal an die berühmte Fabel des Äsop denken, Sie werden sich erinnern, die mit dem Hund dem Wolf. Beide begegnen einander. Dem Wolf fällt die Wohlgenährtheit seines domestizierten Vetters auf und da ihm selber das Vaterunser durch die Rippen bläst, erkundigt er sich neugierig nach der Einkommensquelle seines Gegenübers. Dieser erklärt ihm, der Dienst sei leicht. Er müsse eben nur den Hof bewachen. Der Wolf nun ist drauf und dran sich ebenfalls für eine solche gut dotierte Tätigkeit zu entscheiden als ihm die abgeschabte Stelle rings um den Hundehals auffällt. Auf Nachfrage wird ihm die Auskunft zuteil, das sei der Preis des guten Lebens – man liege halt viel an der Leine und sei auch sonst in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Isegrim schüttelt den Kopf: Nee, das nun doch nicht, lieber mager und frei als fett und gefangen. Und trabt davon.


Wie diese Eloge auf die Freiheit Einzug in ostdeutsche Schulbücher für den Deutschunterricht finden konnte, bleibt ein Rätsel. Daß sich die Quintessenz gegen die damaligen Machthaber und ihre berüchtigte Mauer kehrte, schien diesen Leuten nicht weiter aufzufallen. Sie interpretierten das Wort Freiheit sowieso auf etwas ungewöhnliche Weide: Freiheit, das bedeutete für sie Freiheit von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.


Äsops Fabel jedoch trifft den Kern unserer Betrachtung. Die D.D.R.-Bürger waren dem Äsopschen Hund gleichzusetzen. Wohlgenährt, nicht eben in westlicher Überfülle lebend, aber doch in existentieller Sicherheit von der Wiege bis zur Bahre. Wenn sie sich der Systemkonformität nicht vollends verschlossen, konnten sie das eine gottgegebene Leben ganz gut über die Runden bringen. Wollten sie nicht kapieren, wie gut es ihnen ging, bekamen sie ihre Sehnsucht nach dem Rest der Welt nun partout nicht in den Griff, war ihnen die Mauer ein permanentes Ärgernis, na, dann gaben ihnen die Bolschewisten ein paar aufs Maul und schikanierten hier ein bißchen und quälten dort ein wenig – aber sie ließen die Leute leben. Nota bene – hier ist nicht die Rede von jenen geisteskranken GPU-Truppen der Stalinära, die, um ihr Plansoll für die Ergreifung konterrevolutionärer Elemente zu erfüllen, wahllos ihnen völlig unbekannte Bürger von den Straßen der Stadt Minsk wegfingen, um sie ohne Prozeß im nahegelegenen Wald von Chatyn zu erschießen. Wir reden hier von der D.D.R. der Siebziger/ Achtziger Jahre.


Wie sieht es nun aber im „Wolfsland“ Bundesrepublik aus? Dem Hort der Freiheit? Nun, leider nicht viel besser, eher schlechter. Freiheit ist eine Marktware, wie jede andere auch. Wer sie haben will, muß sie sich leisten können. Ansonsten hat er nur die Freiheit in der Gosse zu verrecken. Hier bringt dich keiner von Staats wegen um! Nein, du bist ihnen scheißegal. Wenn du vom Tellerrand fällst, lassen sie dich liegen. Es sei denn, sie können mit deinem Elend noch ein paar Groschen verdienen. Dann bist du noch eine Schlagzeile wert, ehe deine Sterblichkeit in den Tiefen des Nichts verschwindet.


Natürlich muß man anerkennen, das dieses System sich den Gesetzen der belebten Natur am meisten annähert, während die Kommunisten mit ihrem angeblich wissenschaftlich fundierten Gesellschaftsmodell nun völlig an jeder Realität vorbeirutschten. Sozialdarwinismus heißt das nach Faschismus stinkende Zauberwort! Aber nur das hat Bestand. Die utopischen Träumereien des Bolschewismus waren einfach nicht mehr bezahlbar und wettbewerbsfähig waren sie nun gleich gar nicht. Jedenfalls nicht auf lange Dauer.


Hier nun heißt es: die Schlauen leben von den Dummen, und die Dummen gehen arbeiten (wenn man sie läßt und sie noch können), und wenn die Dummen keine nachgefragte Arbeitskraft mehr anzubieten vermögen, dann werden sie halt zu überflüssiger Biomasse. Das ganze Gerede vom nicht zu beziffernden Wert des Menschen ist Kokolores. Er ist genau das wert, was er an Leistung zu verkaufen vermag – es sei denn, er findet andere Menschen, die ihn so sehr lieben (oder geliebt haben – hä, hä, nicht wahr liebe Scheidungsopfer?), daß sie bereit sind, für seinen Unterhalt mitzuarbeiten.


Was die Fernsehturmbesucher früher durch ihre Feldstecher sahen, war prinzipiell das, als was es ihnen die Bolschewisten darstellten. Nur die wenigsten wollten es wahrhaben. Der Bonzenknecht lag mit seiner Erklärung seinem Kind gegenüber gar nicht so weit daneben. Doch viele ließen sich durch die Freizügigkeit und das Überangebot an Konsumgütern derart blenden, daß sie den Preis nicht sahen, der zwingend für diese Art des gesellschaftlichen Zusammenlebens bezahlt werden muß. Das böse Erwachen kam später.


Wir betonen nochmals: Dies ist keine Reminiszenz an die untergegangene D.D.R. Die war auf ihre besondere Art und Weise repressiv und unmenschlich. Ihr von ewiger Paranoia diktierter Klassenkampfwahn ödete die meisten ihrer Bürger irgendwann nur noch an. Die sozialistischen Wettbewerbe, das dämliche „Heraus-zum-1.Mai!“, die hohlköpfigen Parolen, die pausenlose Gängelei, die Wahlfarcen, der alles begleitende Mangel und die ungeheuerliche Anmaßung, 16 Millionen Menschen einzusperren und ihnen das Betreten eines Großteils dieses Planeten schlichtweg bei Todesstrafe zu verbieten, führten dazu, daß wir im Gegensatz zu einigen verbliebenen Betonköpfen diesem Gebilde keine Träne nachweinen.


Eine alternative, lebbare Gesellschaftsform können auch wir nicht vorschlagen. Es ist eben wie in der Serengeti. Wenn der Löwe die Gazelle gerissen hat, erklären die Eltern den entsetzten Kindern: Das ist ganz grausam, aber in der Natur ist das nun mal so! Von irgendwas muß der Löwe ja auch leben. Die einen haben Glück, die anderen Pech. Setz dich hin und spiel eine Runde Monopoly, dann begreifst du wie es läuft!


Die Bundesrepublik hat aufgehört den Reigen der wirtschaftsmächtigsten Nationen anzuführen. Sie wird nicht mehr lange in der Lage sein, den armen Schweinen dieser Welt ihre Bedingungen aufzuzwingen und sie auszubeuten. Ihre eigenen Säulen der Nationalökonomie, die Granden der Wirtschaft verlegen ihre Firmensitze mehr und mehr ins Ausland, wo sie billigere Produktionsbedingungen vorfinden. Somit geht auch das deutsche nationale Vermögen den Bach runter. Jetzt trifft es die armen Schweine im Inland.


Der belebende Kampf mit dem „Reich des Bösen“ jenseits des eisernen Vorhangs ist ebenfalls beendet. Wir müssen uns auf eine lange, lange Eiszeit einstellen. Rom hat sich bis heute nicht erholt.

2. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2004
13.02.2004