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Deutsche
Doppelmoral: Nicht nur Putin, auch der Westen ignoriert das Völkerrecht
Die Deutschen meinen zu wissen, dass sie die Guten sind, wenn sie sich
gegen Russland stellen. Und doch ist die moralische Bilanz des Westens
katastrophal.
Günther Auth, 16.5.2022 aktualisiert 17.05.2022 - 10:15 Uhr
Eine dominante Attitüde in
der aktuellen Debatte über den Krieg in der Ukraine ist die Wahlpflicht
zwischen Gut und Böse: auf der einen Seite die Ukraine mitsamt der
sie unterstützenden Fraktion liberal-demokratischer Staaten des Westens
und auf der anderen Seite Russland. Von der dortigen Staatsführung,
das ist nicht nur Leitfiguren wie Baerbock, Habeck und Hofreiter, sondern
auch jedem selbstbewussten Influencer aus der Generation Z bewusst, kann
nur das Schlimmste befürchtet werden.
Erst die Vernichtung der Ukraine, dann ein ausgedehnter Feldzug gegen
die Staaten in der Region Osteuropas, danach der Angriff auf Kerneuropa,
schließlich die Eroberung der übrigen Teile Westeuropas, in
letzter Konsequenz auch ein völlig irrer Atomschlag gegen diejenigen,
die sich noch gegen den russischen Imperialismus wehren können. Und
warum? Weil die russische Führung den „demokratischen Aufbruch“
in ihrer Nachbarschaft fürchtet!
Und wegen dieser Demokratiefeindlichkeit des russischen Regimes dürfte
sich der gute Westen aus Angst nicht einfach wegducken und die Dinge in
der Ukraine geschehen lassen. Dem Bösen müsste mit immer schwereren
Waffen begegnet werden. Russland sollte wirtschaftlich und militärisch
in die Knie gezwungen werden. Im Idealfall wäre die russische Führung
unter Putin auszuwechseln, um so der Hydra den Kopf abzuschlagen.
Wenn es erforderlich werden sollte, einen Nuklearkrieg zu riskieren, dann
würde das nach dem Autor der Berliner Zeitung Klaus Bachmann oder
Ralf Fücks nicht unbedingt das Ende der Welt bedeuten. Stärker
als die Sorge um die Konsequenzen eines Nuklearkriegs wiegt allenthalben
die moralische Pflicht, das Gute zu schützen. Zudem handelt der Westen
völlig im Einklang mit dem Völkerrecht, das es ausdrücklich
erlaubt, einem angegriffenen Staat bei der Verteidigung seiner territorialen
Unversehrtheit und Unabhängigkeit militärischen Beistand zu
leisten. Warum also nicht beherzt einen groß angelegten Kreuzzug
gegen das Böse führen?
Den Ton der öffentlichen Kriegsdebatte
geben die Streiter für das Gute an
Harald Welzer und andere „Intellektuelle“ trauten sich, in
einem offenen Brief nicht nur die Dichotomie zwischen Gut und Böse
zu hinterfragen, sondern auch eine Prüfung der Rolle des Westens
bzw. der Nato im Vorfeld des Krieges anzuregen. Solche Vorschläge
kommen trotz der so oft beschworenen Meinungsfreiheit im Land überhaupt
nicht mehr gut an. Der Kampf um das richtige Narrativ scheint schon längst
entschieden zu sein.
Den Ton der öffentlichen Kriegsdebatte geben die Streiter für
das Gute an: Psychologen, Philosophen, Biologinnen, Theologen, Autoritarismusforscher,
Neurowissenschaftler, Journalistinnen mit und ohne Jurastudium sowie natürlich
die diversen Expertinnen aus den regierungsnahen und/oder transatlantischen
Denkfabriken. In der öffentlichen Debatte sind nur diejenigen noch
kaum zu Wort gekommen, die sich grundlagenorientiert und mit einem eher
kritischen Blick für das Gesamtbild der internationalen Beziehungen
interessieren. Aber man hat das bislang auch nicht als Mangel empfunden.
Offensichtlich kann sich jede/r einigermaßen Gebildete, zumal mit
Hochschulabschluss, durch einen Blick auf die zweifellos schrecklichen
Bilder und Fakten des Krieges ein eigenes Urteil von den aktuellen Vorkommnissen
machen.
Man möge sich an den blamablen Hufeisenplan
des Westens erinnern
Das Problem dabei ist nur, dass es niemals gelingt, sich ohne eine fundierte
Wissensbasis und nur mit einem Blick auf Bilder und die sogenannten Fakten
ein klares Urteil von Kriegsgeschehnissen zu bilden, geschweige denn Verantwortliche
zu identifizieren. Es sollte heute allen Diskutanten und Diskutantinnen
zu denken geben, dass die vorübergehende gemischte Abrüstungskommission
des Völkerbunds vor fast genau hundert Jahren feststellte, dass die
Lobbyisten der Rüstungsfirmen während des Ersten Weltkriegs,
einem vierjährigen industrialisierten Vernichtungskrieg, treibende
Kräfte hinter groß angelegten Desinformationskampagnen waren
und versuchten, politische Entscheidungsträger durch Bestechung für
militärische Eskalationsspiralen zu gewinnen, um an der fortschreitenden
Intensivierung des staatlich betriebenen Bellizismus zu verdienen.
Es ist noch nicht so lange her, um sich an entsprechende Entwicklungen
in der jüngsten Vergangenheit nicht erinnern zu können: etwa
als sich der deutsche Verteidigungsminister zusammen mit dem BND anno
1999 bei der Präsentation des sogenannten Hufeisenplans serbischer
Milizen im Kosovo blamierte, auf die dann der berüchtigte Nato-Militäreinsatz
gegen Serbien folgte; unvergessen auch der bühnenreife Auftritt des
US-Außenministers anno 2003 im UN-Sicherheitsrat, in dem es um „Beweise“
für den Besitz und den Bau von Massenvernichtungswaffen im Irak ging,
der einen langjährigen (Drohnen-)Krieg mit Hunderttausenden Toten
nach sich zog; ähnlich geartet liegen die vermeintlichen „Beweise“
der US-Regierung für den Einsatz von Giftgas anno 2013 durch die
syrische Regierung, die umgehend von amerikanischen Wissenschaftlern des
MIT in Boston als fabricated evidence angezweifelt wurden.
Hat nur Putin das Völkerrecht vom Tisch gewischt? Nein
Die Informationsgewinnung
der westlichen Geheimdienste ist nicht nur intransparent, sondern den
politischen Interessen ihrer Regierungen verpflichtet und wirkt vor allem
deswegen suspekt, weil sie zu einem ganz erheblichen Teil auf der Mitarbeit
von Subunternehmen beruht, die bei ihrer Arbeit ganz eigene Interessen
verfolgen: den Aufbau einer dauerhaften Geschäftsbeziehung mit einem
Krieg führenden Überwachungsstaat. Die Booz Allen Hamilton Corporation
aus der Carlyle Group, die International Renaissance Foundation aus dem
Soros-Netzwerk oder auch das englische Recherchenetzwerk Bellingcat haben
mit ihren sogenannten Enthüllungen vor allem dazu beigetragen, dass
sich emotionalisierte Öffentlichkeiten mit „Herz und Verstand“
dem Feind entgegenstellen und die von Regierungsseite geplanten Militärausgaben
begrüßen.
Widersprüchliche Informationen über die Gründe und den
Verlauf von Kriegen stören natürlich das Geschäft der im
Regierungsauftrag Ermittelnden, zudem erschüttern sie leicht den
„Moral high ground“ aller selbst ernannten Kreuzritter. Freilich
ist es zumindest für das politische Personal, das sich qua Schwur
auf die Verfassung dem Schutz des deutschen Volkes verpflichtet hat, eine
ausgesprochene Pflicht, sich vor Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen
so gut wie möglich über relevante faktische Zusammenhänge
zu informieren.
Und hier eröffnet sich insofern ein Dilemma, als eine ganze Fülle
sensibler Fakten existiert, die es fraglich erscheinen lassen, ob der
Westen während der letzten 20 Jahre im Zeichen des Völkerrechts
agiert und ob nur Putin das Völkerrecht vom Tisch gewischt hat, ob
zudem der angedrohte Atombombeneinsatz ein verrücktes persönliches
Projekt ist – und ob „die“ USA bisher wirklich alles
richtig machen, da sie vornehmlich auf Provokationen gegenüber Russland
verzichtet haben.
Ignoranz des Westens gegenüber den
Sicherheitsinteressen Russlands
Selbst im traditionell regierungsnahen amerikanisierten Mainstream der
akademischen internationalen Beziehungen wird die anhaltende Ignoranz
des Westens gegenüber den Sicherheitsinteressen Russlands als der
schwerwiegendste strategische Fehler seit dem Ende des Ost-West-Konflikts
eingeschätzt. Nicht die Ausweitung der liberalen Demokratie, sondern
die Ausweitung der Nato mitsamt ihren beträchtlichen nuklearen Erstschlagsfähigkeiten
gilt hier als der wesentliche Grund für die assertive russische Außenpolitik
seit 2008.
In Ergänzung dazu könnte es sinnvoll sein, ein paar Entwicklungen
zu berücksichtigen, die in der Fachliteratur kritisch kommentiert
worden sind und die aus einer distanzierten Haltung heraus durchaus als
Präzedenzfälle für die Missachtung des UN-Völkerrechts
durch den Westen angesehen werden können bzw. müssen.
1) Der geopolitisch motivierte Austritt der USA aus dem ABM-Vertrag anno
2002, die anschließende Entwicklung von offensiv einsetzbaren Raketenabwehrsystemen
sowie ihre Stationierung in Bulgarien anno 2016 und Polen anno 2018.
2) Der völkerrechtswidrige Krieg der USA und Großbritanniens
gegen den Irak sowie der dadurch herbeigeführte Regimewechsel anno
2003.
3) Die völkerrechtlich umstrittene Sezession des Kosovos von Restjugoslawien
anno 2008 sowie die anschließende Anerkennung vor allem durch den
Westen und seine Verbündeten.
4) Die Vorbereitung und Initiierung der Militäroffensive Georgiens
in Südossetien durch die USA anno 2008.
5) Der Militäreinsatz der Nato gegen Libyen anno 2011 unter Geltendmachung
falscher Tatsachen und der dadurch bewirkte Regimewechsel in Überschreitung
der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates.
6) Der von hohen amerikanischen Funktionären orchestrierte Putsch
gegen die demokratisch gewählte Regierung Janukowytsch in der Ukraine
anno 2014 sowie die sich daran anschließende (verdeckte) militärische
Unterstützung ultranationalistischer ukrainischer Antiterroreinheiten
durch die USA im Kampf gegen die oppositionellen Kräfte im Südosten
der Ukraine.
Demokratische Angriffskriege sind normale
Vorgänge geworden
Die Annexion der Krim durch Russland anno 2014 steht genauso wie der im
Februar begonnene Angriffskrieg in einem eklatanten Widerspruch zum völkerrechtlichen
Gebot der Unterlassung jedweder Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit
der Ukraine. Aber diese Verletzungen des Völkerrechts nicht in einem
unmittelbaren Zusammenhang mit dem fragwürdigen Gebaren der USA und
dem von ihr gelenkten Westen seit Anfang des Jahrtausends zu sehen, kommt
einer unverantwortlichen Realitätsflucht gleich.
Und dass die atomare Drohung Russlands nicht leichtfertig abgetan werden
sollte, hat vor allem damit zu tun, dass sich die internationale Konstellation
für Staaten wie Russland weniger wie eine völkerrechtlich fundierte
internationale Ordnung präsentiert, sondern eher einem bedrohlichen
Ausnahmezustand gleicht, in dem demokratische Angriffskriege und Regimewechsel
normale Vorgänge geworden sind.
Sabotage von Vereinbarungen
Dazu gehört auch, dass die USA ihrer äußerst provokativen
Freund-Feind-Rhetorik gegenüber Russland (und China) seit ca. 2006
erkennbar antagonistische Strategien haben folgen lassen, die im Zusammenhang
mit ihrem eigenen imperialen Projekt der „Grand Strategy“
stehen: Verhinderung einer wirtschaftlichen Annäherung über
vertiefte Energiepartnerschaften zwischen den Staaten der EU und Russland
durch Bullying der betreffenden Regierungen, wie im Falle Bulgariens und
Österreichs anno 2014; Vereitelung der von Russland nach der Finanzkrise
von 2007/2008 forcierten Eurasischen Union u. a. mit der Ukraine und ihren
wertvollen Gasvorkommen und landwirtschaftlichen Flächen; Verhängung
immer neuer Wirtschaftssanktionen zur Schwächung Russlands als treibender
Kraft hinter der Kooperation zwischen den BRICS-Staaten; Sabotage der
bereits getroffenen Vereinbarung zwischen Putin und dem damaligen ukrainischen
Regierungschef Poroschenko anno 2014 zur Befriedung der Situation in der
Ostukraine im Zusammenhang mit geplanten Kompensationszahlungen über
1 Milliarde US-Dollar an die Ukraine für die Annexion der Krim.
Quelle:
Berliner Zeitung, Abruf online 20220519,
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ist Lecturer am Geschwister-Scholl-Institut der LMU München und lehrt
seit 1999 Theorie und Geschichte der Internationalen Beziehungen.
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