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Die Marienkirche und das Prämonstratenserstift auf dem Harlunger Berge

Aus Anlaß eines Vortrages vor dem Historischen Verein Brandenburgs durch die Herrn Referenten Dr. Christian Gahlbeck und Dr. Joachim Müller

K. K. Bajun
Wissen Sie, was ein Phantomschmerz ist? Nein? Ich sag’s Ihnen: An ihren Gliedmaßen amputierte Menschen klagen häufig über Schmerzen in ebenjenen Gliedern, die sie seit der Amputation nicht mehr besitzen. Der Mann, dessen vollständiger linker Arm fehlt, hat höllische Schmerzen in der linken Hand. Nun, das ist neurologisch durchaus begründbar. Die zentralen Nervenzellen, die für diese Körperregion zuständig waren, sind ja noch da. Und sie melden sich irritiert. Und es tut weh! Wirklich. Es tut weh!
Und jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Eine ganze Kommune, nichts anderes als ein großer Organismus, leidet an solch einem Phantomschmerz. Seit beinahe dreihundert Jahren geht das nun schon so. Am 1.April 1722 wurde die Chur- und Hauptstadt Brandenburg an der Havel endgültig und für alle Zeiten seiner Krone beraubt: Die legendäre Marienkirche und das angeschlossene Prämonstratenserstift auf dem Harlunger Berge fielen regulären Abrißarbeiten zum Opfer. Damals stand die für die Mark so unendlich wichtige Wallfahrtskirche fast zweihundert Jahre leer. In dieser Zeit wurde Baumaterial geklaut, sogar auf Verlangen der Eigentümer herausgebrochen, die Witterung tat ihr Übriges – es war ein Horror.
Die Menschen glaubten, Wichtigeres zu tun zu haben, als sich um eine viertürmige Kirche zu kümmern, die einsam auf einem Berge vor den Toren der Stadt stand.
Hätten Sie jemandem von den Damaligen erzählt, wie enorm wichtig gerade dieses Bauwerk für die Stadt Brandenburg ist, man hätte schon um Ihretwillen eine Irrenanstalt erfunden.
Ja doch, ja doch – der Magistrat und der Dom protestierten, als unser alter König das ruinöse Gotteshaus sprengen ließ. Aber was hatten sie getan in den achtzehn Jahrzehnten vorher, um es zu schützen? Einen alten Mann und eine alte Frau hatten sie auf den Berg gesandt, die kein Lumpengesindel ferne zu halten vermochten, und benutzten das Gotteshaus trotzdem als Steinbruch.
Nein, das waren wohl Krokodilstränen, die da vergossen wurden. Brandenburger, ihr wart kurzsichtige, egoistische, nur auf eure Krämerseelen bedachte Kleingeister! Die unvermeidliche Rechnung dafür mußtet ihr dem Schicksal begleichen – auf Heller und Pfennig, mit Zins und Zinseszins.
Das, was euch wirklich hätte zusammenführen können, die übergeordnete steinerne Idee sozusagen, das weithin sichtbare Zeichen eures Stolzes und eurer Identität, euer Eiffelturm wurde euch genommen! Und – habt ihr daraus gelernt? Die Pfennige, die ihr am Erhalt der schönen Kirche auf dem Berge gespart habt, die zahlt ihr von nun an bis in alle Ewigkeit mit Summen ab, die euch schwindlig machen sollten. Ihr zahlt mit einem großen Teil eures Selbstbewußtseins. Ihr zahlt mit eurer Attraktivität. Der Teufel hole das Kriegerdenkmal, der Teufel hole die „Friedenswarte“! Wessen die Dreistadt am dringendsten bedarf, war, ist und bleibt ein zentrales Identifikationsobjekt, wie es Köln besitzt, und Aachen und Rostock und Magdeburg und Mainz und - ja, auch Dresden. Seit jüngstem wieder. Die Sachsen, die großartigen Sachsen, die Vielverlachten – sie haben sich nicht mit dem Verlust ihrer geliebten Frauenkirche abgefunden. Sie haben ein Wunder vollbracht und George Bärs staunenswerter, herrlicher Kuppelbau steht wieder da, so, wie ihn Canaletto sah!
Es ist ja nicht nur, daß halb Japan die Canon-Kameras auf das Wunder von Dresden hält – den Dresdnern selbst schwillt der Kamm vor Stolz. Wir – Dresden! Das ist die Botschaft.
Himmelherrgott, ihr sturen Brandenburger – begreift ihr denn nicht?! Der Marienberg, der Harlunger Berg ist seit mindestens zwei Jahrtausenden ein Zentral-Heiligtum. Man sieht ihn bis zur großen, dreispurigen Ost-West-Autobahn. Alles ist doppelt, ja dreifach gewesen in unserer gequälten und doch so überaus liebenswerten Heimatstadt: Die Kirchen, die Magistrate und Verwaltungen, die Denkweisen in den Köpfen. Wessen es am dringendsten bedurfte, das war ein zentraler Punkt, einer, der alles überragte, einer, der alles vereinte. Das war Triglafs Tempel, das war später die Marienkirche. Das war diese wunderschöne Perle norddeutscher Backsteingotik in Gestalt eines griechischen Kreuzes.
Wollen wir alle mit Dr. Motte um die illuminierte „Friedenswarte“ tanzen? Wollen wir das? Nein, lieber Herre Gott! Da schick uns lieber den Kometen!
Sie war schön, sie war so schön, sie war die perfekte Harmonie. Und sie hatte es nicht verdient, auf so erbärmliche Weise unterzugehen.
Die letzen Fundamentreste wurden 1960 von den Kommunisten beseitigt, als diese sich daran machten, ihren neunen Wasserkessel in den Berg zu bauen. Die Roten meinten es gut. Das soll ihnen niemand bestreiten. Aber sie hatten keinen Sinn für die höchst immaterielle Seele, ihre Kraft und ihre Bedürfnisse. Das hat ihnen letztendlich das Genick gebrochen.
Der letzte Stein aber verschwand vom Harlunger Berge. Was blieb, sind ein paar Ziegel im Militärwaisenhaus Potsdam, in den Kurien gottvergessener Domherren, in Oberst Massows Brandenburger Frey-Haus und unter der Chaussee nach Plaue – einem kleinen Stück der Reichs-, Fern- und Bundesstraße 1.
Ja, wir vom Preußischen Landboten fühlen einen Phantomschmerz, wenn wir den nackten, kahlen, seiner Krone beraubten Berg sehen. Und wir sehen ihn täglich. Der Schmerz brennt und wühlt in uns. Wir wissen, daß unserer Heimatstadt tagtäglich Unsummen verloren gehen, weil wir an unserem Haupte amputiert worden sind. Die häßliche Prothese, die uns 1974 übergeholfen wurde, schreckt eher ab, als das sie Gutes bewirkt.
Wir sehen die Schemen unserer Marienkirche über dem Berge, wir sehen sie von jeder Himmelsrichtung und wir beneiden all das ignorante Volk, das nicht weiß und nicht wissen will und darum selig zu preisen ist.
Wissen kann weh tun! Es tut weh! Es brennt in der Seele!

B 3. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2006