Kann man Zukunft planen?
J.-F.
S. Lemarcou
Kann man Zukunft planen? Ach, was gibt’s da alles für
Weisheiten. „Der Mensch denkt und Gott lenkt“, sagt
der Volksmund. „Geh mache einen Plan, sei ein großes
Licht! Mache einen Zweiten – gehen gehen sie alle beide
nicht“ philosophierte Altmeister Brecht. Da ist von der
Allmutter Chaos die Rede, die ein jedes Ding mit widernatürlich
niedriger Entropie zurück auf einen thermodynamisch sinnvollen
Zustand höchster Entropie zurückrufen möchte
und jeglicher Organisation abhold ist. Unterstützt wird
sie von ihren wackeren Töchtern Schicksal und Zufall.
Aber planen ohne eine sinnvolle Organisation und eine genaue
Kenntnis des Ausgangsterrains hat wenig Sinn.
Da sitze ich also auf „meiner Morgenbank“ im Berliner
Tiergarten und schaue paffend hinüber zur Siegessäule
mit der sie krönenden Goldelse. Aber so schön ist
die im Licht der aufgehenden Sonne glitzernde Madame nun auch
wieder nicht, daß ich den Blick gar nicht von ihr abwenden
könnte. Eingerahmt ist sie zwischen den Zweigen und Ästen
zweier gegenüberliegender Baumriesen. Ahorn, Linden –
so groß wie die sind, müßten sie den Krieg
und die Nachkriegszeit eigentlich überlebt haben. Sie bringen
mich auf meinen Gedankengang zurück. Ist Zukunft planbar?
In den Zweigen der Bäume raschelt es. Zwei Eichkater haben
hier ihr Revier. Der eine kommt herunter, bewegt sich in zierlichen
Sprüngen über die kleine Wiese, die sich im Halbrund
vor mir öffnet. Er hält inne, sichert, hoppelt weiter.
Nach Norden wäre ihm eine Flucht verwehrt. Es ist einer
der Tiergartenteiche, der sich hinter dem beinahe doppelmannshohen
Ahorngestrüpp versteckt. Von meiner Bank her ist er kaum
wahrzunehmen. Nur ein winziges Fenster im Gesträuch läßt
die Wasserfläche erahnen. Gesetzt, ich würde mir vornehmen,
stracks auf die Siegessäule zuzumarschieren, wäre
des Geländes aber völlig unkundig. Würde ich
nicht den geraden Weg auf die Ahornbüsche zu nehmen und
mit der unerwarteten Wasserfläche das erste Mal vor einem
beinahe unüberwindlichen Hindernis stehen? Wüßte
ich, daß hinter der dichten Baumreihe jenseits des Teiches
eine zehnspurige Straße dicht rollenden Automobil-Verkehr
führt? Erst beim Gehen, mit diesem tätigen Prozeß,
erschlösse sich mir Stück um Stück eine Herausforderung
nach der anderen.
Jedesmal aufs Neue wäre zu überlegen, welche Reaktion
nun angemessen sei. Mehr als einmal müßte ich mich
darauf beschränken, lediglich das Ziel, die Goldelse, nicht
aus den Augen zu verlieren. Vor jeder Weggabelung, bei Erreichen
eines neuen Ufers, eines Zaunes oder was auch immer, tauchte
dann die Frage auf: Lohnt es noch? Übersteigt nicht langsam
der Aufwand das Ergebnis? Wäre es nicht an der Zeit, über
Alternativen nachzudenken? Oder gar aufzustecken?
Der kleine Eichkater hat eine junge Birke erreicht und ist mit
wenigen Sätzen auf dem Baum. Ein beunruhigtes Stockentenpärchen
schwimmt ein paar Ruderschläge auf den Teich hinaus, einige
Litzen beschimpfen sich gegenseitig. Keine dieser Mitgeschöpfe
plant. Sie leben alle mehr oder weniger effektiv in den Tag
hinein. Wenn’s vorbei ist, ist’s vorbei. Bis dahin
– leben. Einfach so! „Watt kütt, dat kütt,“
wie die Kölner sagen…
Man kann sich so was von aufreiben mit der Planerei. Aber dem
Chaos zur Gänze das Feld überlassen? Nie und nimmer.
Also: Ein Mittelding wäre gut: Ein Ziel haben, den Weg
fürbaß schreiten und – Rückschläge
und aufhaltende Überraschungen mit buddhistischem Gleichmut
ertragen.
Das ist die eine Wahrheit, die akzeptabel erscheint: Der Weg
ist das Ziel.