Der Rasende Burt und der
Zauber der Entschleunigung
Akinokawa
Michi san
In dem Regionalzuge zwischen Magdeburg und Berlin befinden sich
Monitore, die mit Informationen und Werbung die Fahrgäste
etwas ablenken sollen von den für sie so drögen Bilder
der vorbeirauschenden, betörenden märkischen Landschaft.
Dieser Baum dort stand gestern schon genauso da, ein See bleibt
ein See – was soll’s! Hinschauen lohnt nicht. Also
die Kopfhörer des MP3-Players in die Ohren und stier vor
sich hin geglotzt oder gepennt, beim Klang von urtümlichem
Gewummer. Da die meisten Reisenden eh schon abhängig von
sie umgebenden, künstlich bewegten Bildern sind, als erstes
zuhause nach dem Absetzen des Koffers die Glotze anschalten,
so wird das Ersatzgerät mit dem eintönigen Programm
zumindest nicht undankbar angenommen. Es erinnert doch zumindest
ein wenig an die Television, und stillt, wie der Nuckel den
Säugling, des Erwachsenen Gemüte und Sehnsucht.
Und so wird uns ein Kinofilm angepriesen, der demnächst
die Großleinwände heimsuchen soll – denn Anderen
bei deren (wenn auch fiktivem) Leben zuschauen, das ist nun
mal erste Bürgerpflicht.
„Mit Herz und Hand“ soll der Unfug heißen,
den die Amerikaner ihrer kranken Phantasie wieder einmal herausgequält
haben. Der greise Burt Munro, dargestellt von dem ebenfalls
greisen Anthony Hopkins, will sein Motorrad der Marke „Indian“
zur schnellsten Maschine der Welt machen. Als ihn ein altersbedingter
Herzkasper ereilt, zieht es ihn mit großem Gefolge in
eine amerikanische Wüste. Dort nun will er’s wissen
und so prescht er mit seiner tropfenförmig verkleideten
Juchtel über den ausgetrockneten Salzsee.
Ach, es ist erschütternd!
Vor unseren Augen wird wieder einmal am amerikanischen Traume
gebastelt und es möchte einem übel werden. Denn was
ist der amerikanische Traum? Die Antwort ist denkbar einfach:
Der amerikanische Traum ist nichts anderes als die konsequente
Reduzierung des Menschen auf seine archaischen Triebe. Entsetzlich!
Es gilt, fixer, besser, brutaler zu sein als der Nachbar und
möglichst vielen Menschen das Fressen aus der Schüssel
zu klauen! Das Zauberwort mit dem höchsten Nennwert heißt
dabei: „Schneller, immer schneller!“
Dieser Geschwindigkeitswahn hat Legionen in der westlichen Welt
zum Psychiater, in seelisches und physisches Siechtum und in
den Selbstmord getrieben. Aber wen stört’s?
Die Verlierer zählen nicht. Die statistische Wahrscheinlichkeit,
selbst dem Heer der Unter-die-Räder-Gekommenen zugeschlagen
zu werden, wird verdrängt – man starrt gebannt auf
die paar Hanseln, die es „geschafft“ haben. „Schumi“
dreht seine Runden – und das Volk ist besoffen.
Das ist der Stoff, aus dem die modernen Heldensagas gestrickt
werden.
Und Film-Burt steuert nun auch ein paar Maschen zu diesem Kettenhemde
bei. Er vervollkommnet gar den Wahn: Nicht nur der Schnellste
will er sein, nein, er zeigt allen, die es wissen und nicht
wissen wollen, daß auch der Traum der Ewigen Jugend eine
lebenswerte Illusion ist. Burt ist Rentner und mischt trotzdem
und noch immer ganz vorne mit! Ein Trost für die Alten?
Mitnichten. Nur neuerlicher Druck – denn die Botschaft
heißt präzise übersetzt nicht: „Du kannst,
wenn du willst!“, sondern: „Du mußt, ob du
willst oder nicht!“
Nein das ist kein amerikanischer Traum – das ist ein Albtraum.
Wie beneiden moderne Zivilisationen die Naturvölker um
deren mangelnde Begrifflichkeit vom Wesen der Zeit! Das deutet
zumindest darauf hin, daß geahnt wird, welches Krebsgeschwür
hier an den Knochen nagt. Dennoch geht der sinnlose Geschwindigkeits-Irrsinn
auf unseren Straßen, in unseren Büros und Kaufhallen,
in der Schule und beim Arzt unvermindert weiter.
Ein Psychiater wird da auch nicht viel löten können.
Ganz albern wird es, wenn die vom Fahrtwind der eigenen Geschwindigkeit
gepeinigte Menschheit nach Osten schielt, zum Buddhismus, der
als erlösungsfähig wahrgenommen wird.
Ja, aber Herrschaften! Den Buddhismus zieht man sich nicht rein,
wie eine Bachblütenkur oder eine Linie Koks! Mit ein paar
Seminaren ist da nichts getan! Das ist eine Philosophie, die
man mit dem Herzen verinnerlicht haben muß. Sonst bringt
das alles nichts.
Nicht das Atmen muß man üben, nicht den gedankenverlorenen
Schneidersitz – sondern diese Philosophie bis ins letzte
Atom verinnerlichen. In jeder Lebenslage. Beim Yoga-Kurs hecheln,
taugt nichts, wenn man den Streß sofort weiterbetreibt,
sobald man die Straße wiedergewonnen hat.
Doch zurück zum rasenden Burt und seiner unseligen Botschaft.
In seiner Welt, in der es um so sinnlose Werte wie den größten
Radau und die höchste Geschwindigkeit geht, wird die Gelassenheit
der Seele keine Heimstatt finden. Hier wird sich abgerackert,
riesige Werte verpulvert, Schaffenskraft verschlissen für
eine am Ende hohle Illusion, die nichts weiter als den Symbolwert
einer abstrusen Idee verkörpert.
Das Paradoxon schlägt sich unbeabsichtigt in den Bildern
nieder, die uns die Kino-Vorschau liefert: Da ist die offene,
majestätisch ruhig daliegende Salzpfanne, in der sich verrückt
gewordene Nackten Affen um ihre Chimäre tummeln. Diese
Randerscheinungen der Evolution stehlen der Landschaft für
einen Sekundenbruchteil der Erdgeschichte die Ruhe und verwandeln
das Reich der Stille und der Weite in eine dröhnende Sackgasse
und Einbahnstraße.
Über ein Kurzes aber – und darin liegt eine tröstliche
Gewißheit – wird in der Salzpfanne wieder, wie in
den Jahrmillionen zuvor, nichts weiter zu hören sein als
der Wind, der über die Einsamkeit dahinweht – in
seinem eigenen, gemessenen Tempo. Dieser Wind wird die Spuren
der sich so unendlich wichtig und bedeutend vorkommenden Nackten
Affen tilgen und die Geschichte wird die lärmenden Zwerge
nicht mehr kennen, mit all ihren kranken Phobien und ihren profilneurotischen
Wahnideen, mit ihrem Gejaule und Gekreische.
Die Ameisen, die über die ausgetrocknete Erde huschen,
veranstalten keine Wettfahrten – dafür gehört
ihnen die Zukunft!