Kampf dem Krieg!
Zum Beginn des Balkankrieges
vor fünfzehn Jahren
S. M. Druckepennig
Fünfzehn Jahre ist es her, als auf dem Balkan nach Titos
Tod und dem Fall der Berliner Mauer, verbunden mit der Neuordnung
der politischen Weltlage, die Völker Jugoslawiens begannen,
die Waffen gegeneinander zu richten und uns Nachgeborenen des
Zweiten Weltkrieges quasi vor dem eigenen europäischen
Stubenfenster veranschaulichten, was Krieg bedeutet.
Kroaten, Serben, Bosnier, Moslems, Albaner, Montenegriner fielen
übereinander her und entfesselten die Kriegsfurie in für
uns „friedensverwöhnte“ und „zivilisierte“
Europäer erschütternder Weise. Daß unsere zarten
Nerven nicht allzusehr strapaziert werden, dafür sorgten
die Zensoren und Redakteure der Massenmedien, die uns lediglich
mit Bildern versorgten, welche dem durchschnittlichen Fernseh-Zuschauer
gerade noch erträglich waren.
Ferne Rauchsäulen, die Kamera überfliegende Düsenjäger,
Truppentransporte – dabei kann man getrost sein Bier weiterschlürfen
und auf den Würstchen herumgnietschen, die vor dem Fernsehapparat
zu den Chips gereicht werden. Das dreht niemandem den Magen
um. Die Würstchen aber würden nicht einmal hinter
die Zahnleiste gelangen, das Bier sich in feinen, herausgeprusteten
Spritzern auf der Mattscheibe verteilen, wenn man denn die unzensierten
Aufnahmen darböte, die der Krieg den Reportern andient:
Abgerissene Gliedmaßen, zersplitternde Schädel mit
herausquellenden Hirnen, Gedärme, die sich in Blutlachen
auf der Straße verteilen, Mädchen und Frauen, die
von einer barbarischen Soldateska geschändet und hernach
in irrsinnigem Blutrausch geschlachtet werden, Kinder, ihre
Väter und Großväter, die auf einem abseits gelegenen
Felde „hingerichtet“, das heißt: massakriert
werden, weil sie zufällig einer anderen Ethnie angehören.
Zwingt sich nicht die Frage auf, wie das geschehen kann nach
all den Tausenden Jahren Menschheitserfahrung mit dem Krieg,
nach all den Millionen Schwüren: „Nie wieder!“?
Nun, alle ernstzunehmenden Verhaltensforscher dieser Welt werden
bestätigen, daß der Krieg ein Ergebnis der charakterlichen
Grundausstattung der Spezies Homo „sapiens“ ist.
Seit den Forschungen von Frau Jane Godall an den Schimpansen
und deren Verhalten wissen wir ziemlich klarsichtig, welche
Muster den individuellen Bestrebungen, Ambitionen und Kommunikationsformen
der Menschen zugrunde liegen. Es erschauert einen – denn
diese Erkenntnis befördert die Gewißheit, daß
Kriege so unvermeidlich auch in der Zukunft ihren Bestand haben
werden, wie der Tod für den Einzelnen.
Dennoch, der Dualismus fordert, daß es auch bei einem
so ungeheuerlichen Betrachtungsobjekt wie einem Krieg eine zweite,
eine positive Seite geben muß.
Rufen Sie um Gottes Willen nicht sofort: „Das Einzige
Positive am Kriege ist, daß er die Menschen anhand seiner
bezeigten Grausamkeit lehrt, wie solchen Konflikten inskünftig
aus dem Wege zu gehen sei.“ Das ist purer Nonsens! Ich
habe das oben bereits angedeutet. Wäre dem so, dann hätten
die Menschen schon vor Zehn-, ja Hunderttausenden Jahren das
Kriegeführen aufgegeben. Nein, das Einzige was der Krieg
die Menschen lehrt, ist, wie sie noch bessere Waffen entwickeln
können, um des Nachbarn Herr zu werden.
Das Einzige? Nicht ganz… Und hier kommen wir zu dem „positiven“
Aspekt: Der Krieg lehrt uns viel über uns selbst. Wer einen
Krieg je in seiner umfassenden Gräßlichkeit gesehen
oder gar erlebt hat, am eigenen Leibe erfahren mußte,
der wird ein für alle Mal wissen, daß der „Frieden“
an sich nur eine Illusion ist. Man könnte den Krieg und
seine Verbreitung als Kulturfolger der Menschheit betrachten,
der gleich einem Mikrobenteppich die ganze bewohnte Welt durchdrungen
hat und sich lokal lediglich durch eine geringere oder höhere
Konzentration an Gewalt manifestiert.
Der Krieg in seiner offenen, in seiner Menschenleiber zerfetzenden
Gestalt lehrt uns viel über den „intakten“
Menschen in sogenannten Extremsituationen: Wenn er eine Waffe
in der Hand hält, mit der er seinen Willen durchsetzen
oder sich für erlittene Unbill rächen kann. Oder wenn
er einfach einmal ungefährdet von den Zwängen des
Gesetzes und der Moral seine archaischen, seinen finstersten
Triebe ausleben kann.
Ob es unserem Drang und unserer Sehnsucht nach Idyllen paßt
oder nicht – der Krieg veranschaulicht uns viel über
unseren Umgang miteinander – selbst im uns so friedlich
erscheinenden Alltag des Europäischen Nachkriegsfriedens.
Die These mag sie erschütten, mag provozieren, sei’s
drum: Ich behaupte, Krieg beginnt schon bei den lieben Kleinen
im Kindergarten, den Geschwistern im Kinderzimmer, die sich
um ein Spielzeug oder Muttis Gunst balgen. Krieg tobt auf den
Schulhöfen und Krieg tobt in den Büros der „erwachsenen“
Beamten und Angestellten. Er tobt zwischen den Verwandten, ob
sie gerade am Erben sind oder nicht.
Bitte nehmen Sie diese Aussagen nicht ganz so pauschal, wie
sie hier plakativ hinausgetrommelt werden! Natürlich gibt
es viele Menschen und sogar schon Kinder, die auch in angespannten
Lebenslagen ausgesprochen kultiviert miteinander umgehen. Und
es gibt einige wenige, die sich diese Kultur des gewaltfreien
und verständnissuchenden Umgangs sogar in Grenzsituationen
bewahren. Es sind die würdigsten Vertreter der Spezies.
Und es sind die Wenigsten!
Was ist denn Krieg anderes als ausgetragener Kampf abzüglich
der albernen Definitionen der Militärs und Politiker? Kampf
beginnt dort, wo zwei Individuen aufeinandertreffen, sich über
einen Punkt gemeinsamen Interesses nicht zu einigen vermögen
und dann versuchen, den anderen in die Knie zu drücken.
Die Durchsetzung der eigenen Vorstellung ist allerorten auf’s
Panier geschrieben.
Selbst wenn mit scheinbar friedlichen Mitteln, sagen wir durch
eine Diskussion, ein Punkt der Übereinstimmung erzielt
werden konnte, bleibt immer noch die Frage zu klären: Wie
geht der „Unterlegene“ mit seiner Niederlage um?
Sieht er ein, daß sich die gefundene Lösung auch
für ihn vorteilhafter präsentiert oder ist ihm eine
Wunde geschlagen worden, die in ihrem Ruf nach Revision eine
Hypothek auf die Zukunft anlegt? Oft schon haben sich im ersten
Stechen Siegreiche plötzlich und unverhofft am Boden wieder
gefunden, weil die Sache, die einst verhandelt, ausgetragen
und zu den Akten gelegt wurde, sich unter der Oberfläche
bis zum Tage ihrer Auferstehung durchaus lebendig erhielt! Rache,
Revanche, Vergeltung – das sind Elementarbedürfnisse,
die den Nackten Affen durch seine Evolutionsgeschichte hindurch
begleiten. Sie sind ihm angewachsen wie ein Überbein.
Der Landbote nimmt sich mit diesem Aufsatz nicht zum ersten
Male dieses Themas an: Krieg soll immer die Frage nach der Macht
beantworten – und diese Frage stellt sich im nämlichen
Augenblicke, da zwei Menschen aufeinander treffen. Wer wen?
Auf diese einfache Formel läßt sich alles, alles
bei entsprechend nüchterner Analyse reduzieren. Jedes Gebläke
im Kindergarten, jede Prügelei und Schubserei auf dem Schulhof,
jede kriminelle Handlung, jede Art von Mobbing folgt genau dieser
Logik. Keiner anderen!
Das ist es, was den Krieg zu einem immanenten Begleiter der
Menschheit macht. Und der Kriegsteilnehmer oder -beobachter,
so er denn bei klarem Verstande ist, erkennt, daß im zivilen
Leben die gleiche Dynamik herrscht, die auch das Fundament der
offenen, der brutalen, der blutigen Auseinandersetzung erschafft.
Wie bei der Modelleisenbahn: Maßstab 1:87, Mobbing ist
Krieg auf H0-Spur.
Dadurch aber, daß die Aggression nicht so drastisch, nicht
so demaskiert auftritt, können es sich auch die „zivilisierten“,
die demokratisch orientierten Menschen über einen längeren
Zeitraum leisten, ihre zivilisierte Maske über dem rohen
Ich zu tragen und damit konzilianter, angepaßter, friedlicher
zu erscheinen. Aber geh ihnen ans Fell…!
Das Miteinander des Rudeltieres Nackter Affe, auch Mensch geheißen,
erfordert ein stetes Koalieren, Mitlaufen, Opponieren, Positionieren.
Und immer stehen da welche auf der anderen Seite des Grabens.
Wer wen?
Nun werden Sie mich unter Umständen mit großen Augen
ansehen und nach dem tröstlichen Aspekt der leidigen Angelegenheit
fragen. Ich muß Sie enttäuschen: Es gibt keinen.
Krieg ist der Motor der Evolution. Von sich gegenseitig auffressenden
Einzellern bis hin zur „Krone der Schöpfung“
– jeder kann nur selbst vorankommen, wenn es ihm gelingt,
die angefressenen oder angesparten Reserven des Nachbarn für
sich zu vereinnahmen. Jede Schlange, die vom Adler gefangen
wird, hat ihrerseits schon Hunderte Mäuse töten müssen,
um so groß und fett zu werden, daß sie für
den Greifvogel überhaupt erst interessant geworden ist.
Jeder ist mal dran – und jeden erwischt es irgendwann.
Damit hat uns das Nachdenken über das Wesen des Krieges
das Urgeheimnis des Lebens enthüllt – jenseits aller
dichterischen Romantik. Lebe – daß heißt:
Nimm und siehe, wie dir irgendwann genommen wird, etwas oder
alles von dir – bis hin zu deiner Existenz. Dazwischen
sorge noch ein wenig für Nachwuchs – so du denn kannst,
auf daß das Rad sich noch ein wenig weiterdrehe. Bedeutet
doch das Leben, dieser geprobte Aufstand gegen den ersten Grundsatz
der Thermodynamik und die allmächtige Mutter Chaos, die
in Ewigkeit den unorganisierten Ruhezustand, den Zustand größter
Unordnung anstrebt, den einzigen Zeitvertreib im öden Ablauf
des Universums. Leben ist die kurze Auszeit, das kleine Gaudi
in den Äonen des Unbelebten.
Diesem Zeitvertreib haben wir zu dienen. Wir können während
unserer „Dienst-„ also Lebenszeit unsererseits versuchen,
ein wenig Vergnügen aus unserem Dasein zu ziehen. Das gelänge
am Besten, wenn wir nicht stets und ständig versuchten,
das Maximum an Lebensfreude aus dem Leid des Nächsten zu
ziehen, ihn für unser Glück mit seinem Nachteil bezahlen
zu lassen.
Das wäre das Rezept für das Paradies auf Erden, für
Utopia. Wir wissen alle, daß Campanellas Sonnenstaat ein
Hirngespinst ist und – wo er denn von einigen Verrückten
materialisiert wurde – für seine unglücklichen
Bewohner alsbald zu Hölle auf Erden wurde. Es gibt keinen
Ausweg. Nicht für die Menschheit. Bestenfalls für
den Einzelnen: Für den Glücklichen nämlich, der
aus einer diogenischen, christlichen, buddhistischen oder was
auch immer für einer Lebensauffassung heraus in der Lage
ist, sein privates Glück aus sich selbst zu beziehen und
sich an dem zu freuen, was diese Welt ihm bietet, ohne daß
er dem Kain gleich seinem Bruder Abel schaden muß.
Respekt vor dem Anderen und dem Rest der Schöpfung, im
Herzen die unvermeidlich zu tötende Kreatur um Verzeihung
bitte, wie es die schamanistisch ausgerichteten Urväter
und -mütter taten, Nachsicht und persönliche Bescheidenheit
– wer sich in diesen Kategorien täglich ein wenig
selbst übte, trüge schon dazu bei, diese Welt um vieles
lebenswerter zu machen. Und er grübe dem Scheußlichsten
auf der Welt das Wasser ab. Das wäre nicht der Sinn des
Lebens, aber es gäbe dem Leben einen – Sinn!