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Klänge aus dem Feenreich
Klangmythen im Paulikloster

Michael L. Hübner
Der indische Gott Shiva tanzte und erschuf eine Welt. Am Sonntag, dem 4.10. tanzte er in Gestalt der ausgesprochen zierlichen Lara Mallien inmitten von fünf wirklich außergewöhnlichen Musikern – und sie erschufen eine Welt des Klanges inmitten einer Welt des Raumes. Die Zeit aber verlor an diesem Ereignis ihre Rechte. Das war noch nicht da gewesen! So etwas hatte die Mauern der Läutkirche von St. Pauli noch nicht erfüllt. Die Exotik und Verschiedenheit der nach Dutzenden zählenden Instrumente, die Art der Aufführung, der Tanz – das alles war nicht von dieser Welt…
Hängende Rohre wurden zart angestrichen und ergaben mystische Klänge, die zart durch das Kirchenschiff waberten, ein Saxophon kommentierte dies. Es war, als wäre Jan Garbarek persönlich anwesend. Dem Saxophon Tilmann Holstens antwortete aus der Tiefe eine Querflöte, stakkatierend und tremolierend und sehr verhalten, und ebenfalls hauchzart. Die Ahnung eines japanischen Kirschblütentraumes erfüllte für einige Momente den Raum – so gekonnt traf Klaus Holsten die traditionelle Spielweise des Landes unter dem Chrysanthementhron. Leise setzte eine Esraj ein, dieses langhalsige indische Streichinstrument, gespielt von Christine Simon, der Mutter der Tänzerin. Nicht starr saßen die Musiker. Während des Spielens liefen sie langsam und gemessen auf und ab, sich wie zufällig eines der vielen umherliegenden Instrumente greifend und selbst das Klacken der Absätze wurde zur Musik, zum Rhythmus und fügte sich nahtlos zur Performance. Johannes Heimrath flocht das Plätschern des Wassers in die Komposition ein. Aus der Halbschale einer großen Melone floss es in die einer noch größeren. Dann stülpte er die leere, kleinere umgekehrt in die gefüllte größere – und fertig war eine neue Trommel. Während Beata Seemann ein altes Piano und ein rechtwinklig dazu aufgebautes Cembalo gleichzeitig traktierte, klopfte Heimrath mit weichen Schlägeln an die offen gelegten Seiten des Pianos. Und alle Töne fanden zueinander, selbst disharmonische Cluster vereinigten sich mitten im Tanz der jungen Frau zu endlosen Harmonien. Sie improvisieren, erklärt der aus Oberbayern stammende Heimrath später. Ja, das schon. Aber sie bedienen sich aus einem jahrelang ausgearbeiteten Satz von musikalischen Bausteinen. Sie drücken den ganzen Umfang des menschlichen Lebens und Fühlens aus mit ihren Klangwelten. Sie schaffen ein Feenreich aus Tönen und sie laden die Zuhörer während der Aufführung ein, nicht auf den Sitzen zu verweilen, sondern selbst den vertonten Raum zu durchwandeln. „Sie stören nicht, wenn sie laufen“, muntert Heimrath sein Publikum auf, „wechseln Sie ruhig Ort und Perspektive.“ Manche machten von dem ungewöhnlichen Angebot Gebrauch, andere blieben wie gebannt und atemlos sitzen. Selbst die Stille wurde zum Klang. Man konnte eine Stecknadel fallen hören. Diese Klangmythen des Now!-Ensembles, das bereits seit 30 Jahren gemeinsam arbeitet und von der Alten zur Neuen Musik fand, berührten ihre etwa 50 Zuhörer in der Seele. Tangerine Dream, die Sphärik Jean Michel Jarres, die Groupe de Recherches Musicales, selbst Elemente des Jazz, all das Schöne, was in den letzten Jahrzehnten in Tönen ersonnen wurde, kulminierte an diesem Abend im Langschiff der Läutkirche von St. Pauli, dem besonderen Ort für ein wunderbares Ensemble von fünf Klang-Zauberern und einer Tempeltänzerin.

 
B
6. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2008
04.10.2008