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Im Krebsgang
Von Herrn G. Grass

B. St. Fjøllfross
Warum ich? Warum nicht Herr Bajun, dem doch sonst alles Schöne, Kunstvolle, Beachtenswerte anheimgegeben wurde. Warum einen alten, müden Kater an seinem Schwanz aus dem Nest ziehen und sagen: Schreib!
Sie hätten dabei sein sollen, bei dieser wirklich denkwürdigen Redaktionsbesprechung! Es gab keinen, den das Buch nicht bis in die Knochen gepackt hätte. Diese Novelle des Herrn Grass, „Im Krebsgang“ geheißen. Aber als es darum ging, über sie zu berichten, da bewegten sich ganz plötzlich auch meine verehrten Herren Kollegen in eben jener Manier, wie wir sie von den Krabben am Meeresstrand kennen: Sie schauen dir ins Gesicht und laufen seitwärts weg. Schön! Und da sie mir alle in die Augen sahen, hieß das wohl: Alter, das hier ist dein Job, dafür bist du Chef. Das ist gewissermaßen die Legitimation deines fürstlichen Gehaltes! Ja, dann muß ich wohl…

Dieses Buch, dieses kleine Buch, um soviel schmaler als alle anderen, die wir vom großen Meister der deutschen Sprache und Erzählkunst aus Danzig und Lübeck in unserer Bibliothek versammelt haben, dieses Buch hat es in sich. Es legt knallhart den salzigen Finger auf eine nicht verheilte, nicht vernarbte Wunde aus dem letzten Kriege. Eine Wunde, in der sich das ganze Grauen, die ganze unendliche Sinnlosigkeit des sechzig Millionen Menschen fressenden Molochs gleichsam wie unter einem Brennglas fokussiert. Es ist die Wunde, die der Menschheit über der Stolpebank in der Ostsee gerissen wurde. Ein ehemaliges Urlauberschiff, benannt nach einem „Blutzeugen der nationalsozialistischen Bewegung“, in den letzten Kriegstagen vollbeladen mit Flüchtlingen aus Ostpommern, der Dreistadt und Preußen, wird von drei Torpedos aus einem sowjetischen U-Boot getroffen und versenkt. Viele Tausende, die zusätzlich zu ihrem schrecklichen Tode in dem eisigen Meer die Namenlosigkeit erleiden müssen, erfrieren und ersaufen ohne die geringste Chance auf Hilfe.
Um diese wohl größte Schiffstragödie aller Zeiten herum entwirft Herr Grass ein faszinierendes Gewebe von Personen und Handlungen in mehreren Ebenen, die in engem Bezug zu dieser Katastrophe stehen. Dieser stilistischen Möglichkeit bedient sich der Autor in virtuoser Form. Nichts kommt „gestellt“ einher, zäh oder bemüht. Im Gegenteil: Der Geschichte selbst ist eine ungewöhnliche Authentizität zu eigen, die die Grenzen zwischen exzellent recherchierter Realität und Fiktion in feinem Nebel verschwimmen läßt. Gerade mir, der ich im Herzen mit der Stadt Danzig verbunden bin und der ich die meiste Zeit meines Lebens in der deutschen Hauptstadt verbringe, ging es hautnah, standen Bilder in mir auf. Das ist so lebendig, als würde ich sie durch eine Fensterscheibe sehen: hinab auf die Elsenstraße in Danzig-Langfuhr, hinauf zur Dachkammer am Berlin-Schmargendorfer Roseneck, hinüber zum Märchenschloß der lieblichen, der charmanten Residenz am Schweriner See.
Und es tat mir weh zu erfahren, was ich vorher nicht wußte. Nämlich, daß eine Stadt, die das großartige „Bildnis eines alten Mannes“ von Salomon Koningk in ihrer Holländersammlung beherbergt – dem Märchenschloß gegenüber – ihre Unschuld verlor, als sie dem erschossenen „Blutzeugen“ ein Denkmal setzte – wiederum dem Schloß gegenüber.
Wilhelm Gustloff nämlich, der „Blutzeuge“, nach dem das spätere Unglücksschiff benannt wurde, war ein Sohn Schwerins. Später ging er in die Schweiz um eine nationalsozialistische Zelle aufzubauen. Dort ereilte ihn die Revolverkugel eines jungen Juden, der glaubte, seinem gequälten Volke ein Fanal setzen zu müssen.
Und die Stadt Schwerin unter der Herrschaft der Nazis widmete flugs dem toten Heros einen Ehrenhain mit Gedenksteinen und allem anderen Firlefanz. Das hatte nun nichts mehr vom Charme der mecklenburgischen Metropole. Wie überhaupt eine Gesellschaft, die viel Totenkult betreibt allemal mit großer Skepsis beurteilt werden sollte. Denn meist ist der Tod nicht ferne, wo man ihn übermäßig feiert. Aber natürlich meinen die, die den Kult ausrichten, immer den Tod der anderen.
Angezogen von diesem Denkmal also läßt sich eine junge Danzigerin auf der Flucht vor der Roten Armee in der Nähe dieses Ehrenhains nieder. Von dem Denkmal? Nun ja, eher von dem Namen, der darauf zu lesen steht: „Wilhelm Gustloff“. Diese junge Frau, die sicher nicht die gebildetste unter den Töchtern Danzig-Langfuhrs war, verband mit dem Namen weniger den Mann, der ihn einst trug, sondern vielmehr das nach ihm getaufte Flüchtlingsschiff, zu dessen wenigen Überlebenden sie zählte.
Herr Grass porträtiert in bewundernswerter Form das Seelenprofil dieser einfach strukturierten Frau, die so recht eigentlich den Archetypus der unreflektierten Mitläuferin verkörpert. So, wie auch ihre Eltern „kleine Mitläufer“ waren, die dieses „Nicht-über-den-Tellerrand-schauen-wollen“ mit ihrem Leben bezahlten.
Diese Frau und ihre Eltern sind das Kernbaumaterial der deutschen Gesellschaft. Und wer das von Herrn Grass gezeichnete Porträt zu lesen versteht, begreift, wie die Nazis zu solch einem immensen Rückhalt in der deutschen Bevölkerung kommen konnten.
Diese Leute sehen nur ihr eigenes Umfeld. Für größere politische Zusammenhänge haben sie kein Verständnis und wollen sie auch gar keines haben. Geht es ihnen persönlich besser, ist die Segensquelle egal – das Geld mag aus der Hölle sprudeln. Nach dem Preis fragt erst recht niemand.
Diese fatale Haltung, die die Menschen ihr Leben verträumen läßt und vornherein resignierend feststellt, daß die „Große Politik“ nichts für die „kleinen Leute“ sei, diese Haltung ließ der größten Verbrecherbande, die Deutschland je hervorbrachte, freies Feld. Und erst auf diesem freien Feld konnten ihre ungeheuerlichen Verbrechen gedeihen.
Der Blick der jungen Danzigerin, die im Laufe der Jahre zur Großmutter eines heranwachsenden, aufgeweckten und suchenden Knaben wird, behält Zeit ihres Lebens diesen starren Blick auf das schreckliche Ereignis in der Ostsee bei, das sie ja hautnah mit- und nur mit knapper Not überlebt hatte. Traumatisch der Untergang des Schiffes, auf dem ihre Eltern die vielleicht schönste Woche ihres Proletarier-Lebens verbracht hatten – damals, noch zu Friedenszeiten, mit der KdF. All die Hintergründe sind für sie uninteressant: „… ’s war doch een scheenes Schiff!“ Diese Feststellung degeneriert zur Stereotype.
Der Enkel ist da schon aus anderem Holz geschnitzt. Er, der Suchende mit dem wachen Verstand, er recherchiert. Und hier erleben wir ein weiters Mal Herrn Grass als Propheten von biblischem Ausmaß – so wie wir ihn schon in der „Rättin“ bewundern durften: Denn das „Mene mene tekel u pahrsin!“, das „Gemessen und gewogen und zu leicht befunden!“ – hier steht es abermals an der Wand und jeder, der für einen Groschen Schmalz im Kopf hat, kann es lesen – ganz deutlich. Hier steht geschrieben, wohin es führt, wenn sich Grips einen Weg bahnt – ungelenkt und ungezügelt. Wenn die Vermittlung moralischer Werte versagt, wenn sich kluger Verstand dennoch den bequemsten Lösungen zuwendet und sich nur von martialischen Urtrieben regieren läßt. Die Hölle öffnet ihre Pforten!
Das Böse in Deutschland der Nazi-Zeit waren sicher nicht ein paar Horden wildgewordener Steinzeitmenschen, sondern hauptsächlich ein paar, vergleichsweise wenige hochintelligente Leute, die es verstanden, die tumbe Masse in ihren Bann zu ziehen, diese Masse umzuformen mittels einer Mischung aus Faszination, Furcht, eingängigen Sprüchen und nackter Gewalt.
Man schaue auf Arno Brekers Skulpturen. Die nämlich sind die steingewordene Quintessenz des nationalsozialistischen Albtraumes: hirnlose Muskelberge, seelenlose Vollstrecker und Gebärmaschinen, nichts hinterfragende Roboter.
Und davon geht nun für pubertierende Menschen und solche, die diese Entwicklungsphase nie überwunden haben, eine unheimliche Anziehungskraft aus. Eine, die ihre ohnmächtigen Allmachtsphantasien zu fördern scheint. Wenn es denn sonst nichts gibt, wodurch sie sich auszeichnen, dann eben die zufällige Zugehörigkeit zu einer „Herrenrasse“. Einer Truppe, die weiß der Teufel woher den Anspruch bezieht, über andere befinden zu dürfen.
Bei jedem einzelnen seiner Charakterzeichnungen beweist der Autor großen Scharfblick. Ja, so sind sie wirklich, diese Gymnasiallehrerinnen vom Typus der Mutter des erwähnten Enkels, die „ihren Weg“ gemacht haben und sich als mitten im Leben stehend begreifen. Und was sind sie wirklich? Hohl sind sie, einfach nur hohl. Und diese hohle Leere ist angefüllt mit einigen eingepaukten Paraphrasen, die fürs rundum Wohlfühlen und „bloß-nicht-anecken“ konformistisch abgerundet in den engstirnigen Brägen gezwängt werden. Ich bin lieb und gut, also habe ich recht. Und ich habe immer recht! Und überhaupt: Das nicht sein kann, was nicht sein darf. Und wenn es dann doch…, na, dann haben eben die anderen Schuld. Das ergibt sich ja wohl von selbst. QVOD ERAT DEMONSTRANDVM!
Der Vater, der „Softie“, der Verständnisvolle, der mit sich selbst nicht im Reinen ist und von daher nicht einmal den Hauch einer Chance hat, dem Sohn ein anstrebenswertes Vorbild zu sein. Der Schreiber, der exquisit kluge Kopf, der zweitklassige Journalist, der soviel weiß und es doch nicht umzusetzen versteht. (Herr Grass, wen aus meiner Garde haben Sie da eigentlich vor Augen gehabt?)
All das kann der verständige Leser in und zwischen den Zeilen dieser Novelle entdecken. Und das liest sich allemal interessanter als die verlogenen Berichterstattungen von den parfümierten Fürzen der „Promis“, wie sie uns aus den Sudelblättern der Boulevardpresse entgegenschreien.
Ein Wort noch zur Gestaltung. Herr Grass läßt seine Protagonistin, die Tochter Danzigs im ostpreußischen Dialekt sprechen. Das paßt manchen Kritikern nicht. Und diese Kritiker stammen unter anderem aus den Reihen der Vertriebenen. Jetzt frage ich mich, was treibt diese Leute? Zum Ersten, wie soll denn eine junge Frau aus einer Danziger Vorstadt sonst reden? Warum soll dieses Stilmittel der Erzählung abträglich sein? Und zum Zweiten sei an dieser Stelle bemerkt, daß das „Aastpreißische“, das von Marienburg bis „Keenichsberch“, von Memel bis Danzig gesprochen wurde, zu den unwiederbringlich verlorenen Schätzen der deutschen Sprache, ach was, Deutschlands überhaupt gehört. Es ist so sinnlos verschwunden, wie die Potsdamer Garnisonskirche, die Leipziger Augustinerkirche, die Magdeburger Altstadt, das Berliner Schloß und viele anderen Zeugnisse der Kulturleistungen unserer Altvorderen. Während bei diesen Bauwerken wenigstens in der Theorie die Chance besteht, daß sie eines Tages wieder unser Auge erfreuen (wie zum Beispiel das Knochenhaueramtshaus der Diderik-Pinning-Stadt Hildesheim), ist dieser zauberhafte, gefühlsbeladene und warme Dialekt auf ewig verschwunden. Müssen wir also nicht für jedes auch noch so kleine Bild dankbar sein, was uns von dieser Preciose geblieben ist? Herr Grass zeichnet solche Bilder. Und gerade die Vertriebenen, die ihm hinsichtlich dessen am dankbarsten sein sollten, gerade die monieren den Gebrauch des Ostpreußischen im Munde der Danzigerin? Dummheit muß doch Grenzen kennen!
Abschließend wieder stellt sich an dieser Stelle das alte Problem, das von einem solchen Werk auf dem Büchermarkt unweigerlich aufgeworfen wird: Für wen wurde das Buch geschrieben?
Diejenigen, die seinen Sinn erfassen, brauchen es zum Zwecke der Belehrung eigentlich nicht zu lesen – denn sie sind firm in der Materie. Für diejenigen, die nicht lesen können, ist es eh umsonst verfaßt und die letzte Gruppe, die sehr wohl den Geist hätte, es zu verstehen, aber partout nicht verstehen will – kann man wohl ebenfalls nicht als Zielgruppe ansprechen. Ich befürchten sehr, das Buch wird die Narren aller Couleur zwar nicht belehren oder gar bekehren, es wird sie am Ende noch polarisieren.
Auch widerspreche ich der Einschätzung von Frau Fray im „Blick“: >So macht Geschichtsunterricht Spaß!< Ich weiß, was sie meint. Aber das muß man anders zum Ausdruck bringen! Der Inhalt mag so brillant formuliert sein, wie es will – es kann nur Gestörten und Sadisten Spaß machen zu lesen, wie „aisig die See jewesen is und wie die Kinderchen alle koppunter…“, oder wie ein verirrter junger Mensch einen Altersgenossen niederschießt, ihm das eine und einzige Leben nimmt – nur weil sein Kopf angefüllt ist mit kruden und wirren Vorstellungen. Es wäre verfehlt, dabei Spaß zu empfinden. Einwirken lassen soll man das, sich das unsagbare Grauen vor Augen führen und dann – dann soll man über die Hintergründe nachdenken. So vorurteilsfrei, wie Herr Grass das in seinem Buche vorexerzierte. Ohne sich zum Richter aufzuspielen, der die Wahrheit gepachtet hat.
Aber für wen wurde es dann geschrieben? Ich weiß es. Für meine Kollegen vom „Landboten“ und für mich, den Herrn Fjøllfross. Denn wir erkennen in diesen Zeilen, daß wir nicht allein stehen auf der hart umkämpften Walstatt. Wir mögen wenige sein. Aber Leute wie Herr Grass zeigen, auf welcher Seite der menschliche Geist steht. Ein belebendes Gefühl!
Während ich dieses zu Papier bringe, blicke ich hinaus auf den großen Havelsee vor meiner Haustür. Der Wind weht die noch winterkalten Wellen ans Ufer. Wieder und wieder treiben meine Gedanken ab und kehren sich zur Stolpe-Bank und das Grauen, was von menschlicher Hand dort angerichtet wurde. Der fast eisige Ostwind blättert in dem kleinen Grass’schen Buche, das neben mir liegt. Meine Finger sind klamm vor Kälte.
Es ist schwer, zu schreiben…


B 1. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2004